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KRITISCHES CHRISTENTUM

 

Nr. 490/491                                                      September/Oktober 2025

 

 

ZUR MENSCHENGEMACHTEN HUNGERSNOT UND ZUM ANGRIFF AUF GAZA-STADT

Erklärung von Caritas Internationalis

Am 20. August 2025 stürmten israelische Streitkräfte Gaza-Stadt, wo fast eine Million vertriebene Zivilisten Zuflucht gesucht hatten, viele von ihnen bereits am Verhungern. Zwei Tage später, am 22. August, erklärten die Vereinten Nationen eine Hungersnot. Zu diesem Zeitpunkt war der Schaden bereits angerichtet: 273 Menschen waren bereits verhungert, darunter 112 Kinder. Die Erklärung war keine Warnung, sondern eine düstere Bestätigung dessen, was humanitäre Organisationen seit Monaten sagen: Die Bewohner des Gazastreifens ertragen seit langem einen bewussten Abstieg in den Hunger.

Dies ist kein tragischer Unfall. Es ist das Ergebnis wohlüberlegter Entscheidungen. Eine Bevölkerung, der Obdach, Nahrung und Sicher­heit entzogen wurden, musste vor den Augen der Welt dem Untergang überlassen werden.

Dies ist kein Krieg. Es ist die systematische Zerstörung zivilen Lebens. Die Belagerung des Gazastreifens ist zu einer Vernichtungsmaschinerie geworden, die durch Straflosigkeit und das Schweigen – oder die Komplizenschaft – mächtiger Nationen aufrechterhalten wird. Die Hungersnot ist hier keine Naturkatastrophe, sondern das Ergebnis einer gezielten Strategie: Hilfslieferungen werden blockiert, Lebensmittelkonvois bombardiert, Infrastruktur zerstört und Grundbedürfnisse werden verweigert.

Caritas Internationalis ist Zeuge dieses Grauens. Zivilisten, vor allem Kinder und Frauen, werden ausgehungert, bombardiert und ausgelöscht. Einflussreiche Regierungen, Konzerne und multinationale Unternehmen haben diese Katastrophe durch militärische Unterstützung, finanzielle Hilfe und diplomatische Deckung ermöglicht. Ihr Schweigen ist keine Neutralität, sondern Billigung.

Unterdessen gibt die internationale Gemeinschaft leere Erklärungen und leere Plattitüden ab. Diese Doppelmoral dient lediglich dazu, Zeit für weitere Zerstörung zu gewinnen. Caritas Internationalis sieht in Gaza einen gezielten Angriff auf die Menschenwürde und den Zusammenbruch der moralischen Ordnung, ein Versagen von Führung, Verantwortung und Menschlichkeit.

Im Licht des Geistes, der uns leitet, verabscheut Caritas Internationalis all diese Handlungen und Unterlassungen aufs Schärfste. Sie stellen eine eklatante Missachtung der Werte und Grundprinzipien der Menschlichkeit dar und verstoßen eindeutig gegen das Völkerrecht, das humanitäre Völkerrecht und die internationalen Menschenrechtsnormen sowie gegen zahlreiche Bestimmungen spezifischer UN-Konventionen, darunter die Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes.

Papst Franziskus erinnert uns in „Fratelli Tutti“ daran: „Entweder werden wir alle gemeinsam gerettet oder niemand wird gerettet.“

Und die Heilige Schrift fordert uns auf: „Öffne deinen Mund für den Stummen, / für das Recht aller Schwachen!“ (Sprüche 31:8) „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder nicht getan habt, das habt ihr mir auch nicht getan.“ (Matthäus 25:45)

Caritas Internationalis fordert:

1. Ein sofortiger und dauerhafter Waffenstillstand.

2. Uneingeschränkter humanitärer Zugang, um den Hunger zu beenden und Hilfe zu leisten.

3. Freilassung aller Geiseln und willkürlich festgehaltenen Personen.

4. Einsatz einer UN-Friedenstruppe zum Schutz der Zivilbevölkerung.

5. Schutz aller Zivilisten, insbesondere Kinder, Frauen und ältere Menschen.

6. Rechenschaftspflicht aller Täter und Ermöglicher vor nationalen und internationalen Gerichten.

7. Vollständige Umsetzung des Gutachtens des Internationalen Gerichtshofs vom 19. Juli 2024, einschließlich:

• Beendigung der unrechtmäßigen Präsenz Israels im besetzten palästinensischen Gebiet.

• Einstellung der Siedlungstätigkeit und Evakuierung der Siedler.

• Bereitstellung von Wiedergutmachung.

• Die Staaten müssen die rechtswidrige Situation ablehnen.

• UN-Gremien mit der Ermächtigung, konkrete Schritte zur Beendigung der Besatzung zu unternehmen.

Die Hungersnot in Gaza ist eine moralische Bewährungsprobe, und zu viele haben versagt. Eine Bevölkerung verhungern zu lassen, bedeutet, Leben zu entweihen. Schweigen heißt, Mittäterschaft zu leisten.

Caritas Internationalis ruft alle Menschen mit Glauben und Gewissen dazu auf, ihre Stimme zu erheben, Druck auf ihre Regierungen auszuüben und Gerechtigkeit zu fordern. Die Welt schaut zu. Die Geschichte zeichnet auf. Und Gaza wartet nicht auf Worte, sondern auf Erlösung.

Vatikan, 25.08.2025

 

Hans Wührer

ZU GAZA NICHT SCHWEIGEN!

Rede bei einer Demonstration in Wien

Liebe Freundinnen und Freunde des palästinensischen Volkes, die ihr mitleidet und verzweifelt seid über das Leiden der Geschwister in Gaza!

Vor 11 Tagen ereignete sich ein Massaker an jungen Menschen in Graz. Die Erschütterung und An­teil­nahme war groß, auch die Ehrung der Getöteten. Unsere Frau Außenministerin hat beteuert, es zerreiße ihr als Mutter von 3 Kindern das Herz. Nun ereignet sich in Gaza ein unvergleichlich monströseres Gemetzel (wohl 2000 mal so groß!) – und die Welt und Österreich schaut zu und schweigt. Die toten Kinder von Gaza zählen einfach nicht.

Gaza ist inzwischen nicht mehr nur ein einziges Gefängnis, es ist ein einziger Friedhof. Die Überlebenden erleiden die Hunger-Folter.

Ich mag mir nicht vorstellen, wie viele Gazaner heute ihre Toten beneiden....

Man hört, dass israelische Politiker ihr mörderisches Treiben mit der alten biblischen Erzählung von AMALEK rechtfertigen. Amalek war einer der Stämme, die um das Land zwischen Mittelmeer und Jordan kämpften. Nach so einer Schlacht befahl der Gott der Israeliten den 'Bann' über die Amalekiter, was die vollständige Vernichtung alles Lebendigen bedeutete (nicht nur 'Verbannung'!). Weil Israel aber begreiflicherweise das Vieh schonte, wurde es für diese Milde bestraft. Diese (mythologische) Erzählung ist für die radikalen Politiker in Israel der Auftrag: „Amalek" darf uns nie wieder passieren, diesmal müssen wir ernst machen mit dem Bann, d. h. der totalen Auslöschung. Was nichts anderes heißt als Völkermord!

Als katholischer Priester weiß ich: die Juden sind unsere älteren Geschwister im Glauben. So frag ich mich: was sagt denn unsere jüdisch-christliche Tradition zum gegenwärtigen Krieg, was sagt die Bibel, unser gemeinsames Fundament, dazu? Ich stelle erschüttert fest: ihre wesentlichen ethischen Normen widersprechen mit größter Eindeutigkeit diesem Krieg, nämlich:

„Die Erde gehört Gott“. Kein Mensch kann sie als seinen Besitz betrachten. Im besten Fall als Sachwalter, Hüter.

Der Mensch ist nach GOTTES BILD geschaffen. Als solcher hat er – und zwar jede und jeder – teil an der Größe und Würde Gottes. Jedes Menschenleben ist also heilig und unantastbar wie Gott!

„Du sollst nicht töten“ ist zentrales Gebot

Besonders schützenswert ist das Leben der Kinder und Frauen, ganz besonders das der Witwen und Waisen – und der Fremden!

Gegen unverhältnismäßige Gewalt gilt der Grundsatz „Aug um Auge, Zahn um Zahn": Das heißt: du darfst dem Gegner nichts Schlimmeres antun, als er dir. Also jedenfalls keine Blutrache – damit das Überleben Aller gesichert ist!

Frieden nennt die Bibel eine „Frucht der Gerechtigkeit“. Das heißt wohl auch Gleichheit an Chancen und Rechten?  Apartheid und Rassismus verneinen sie aber vehement...

Viele Israelis betrachten sich als das „Auserwählte Volk“ und vergessen ganz, dass dieser Name nie eine Privilegierung bedeutet hat, son­dern die Verantwortung, mit den Brudervölkern den SHALOM Gottes zu suchen: mit ihnen zusammen ein Land aufzubauen, das „von Milch und Honig fließt“.

Wir appellieren heute an unsere Regierung, ich appelliere an unsere Kirchen: „Schweigt nicht länger zur Auslöschung von Gaza! Nennt die Dinge beim Namen, drängt auf Verhandlungen! Das Blut unserer Geschwister in Gaza schreit zum Himmel!“

Hans Wührer, geb. 1943 in Losenstein (OÖ,) ist seit 1968 katholischer Priester der Diözese Linz. Er war u. a. VOEST-Pfarrer (1983 - 2000) und Diözesanseelsorger der Katholischen ArbeitnehmerInnenbewegung (KAB). Wührer ist auch Gründungs- und Vorstandsmitglied der Aktion Kritisches Christentum (AKC). Das ist der Text seiner Rede bei einer Gaza-Solidaritätsdemonstration am 28. Juni 25 ­in Wien.

 

BUCHTIPP:

Hermann Glettler / Abualwafa Mohammed: NICHT DEN HASS, DIE LIEBE WÄHLEN.

Ein Bischof und ein Imam über Spuren der Hoffnung in einer verwundeten Gesellschaft. Herder-Verlag Freiburg im Breisgau 2025. 192 Seiten, Euro 22,--

Dass ein katholischer Bischof und ein islamischer Imam ein gemeinsames Buch schreiben, in dem sie noch dazu überwiegend gleicher Meinung sind, ist sicher ungewöhnlich. Mit ihrem Dialogbuch wollen Mohammed und Glettler zeigen, dass persönlicher oder kollektiver Hass niemals „Lösung oder gangbarer Weg in Konfliktsituationen“ sein kann. In fünf Kapiteln regen sie zum Nachdenken über Dialog in verfeindeten Lebenswelten, Angst, Manipulation und Freiheit, Auswege aus der Hassspirale, das Miteinander der Religionen und das höchste Gebot der Liebe an. Handlungsimpulse geben Anstöße, „um möglichst rasch in ein konkretes Tun zu kommen“.

Uns trennen Welten“, heißt es im Vorwort: Bischof Glettler wuchs auf einem Bauernhof in der Steiermark auf, Imam Abualwafa, Sohn eines ägyptischen Sufi-Meisters, nördlich von Kairo im Nildelta. Nicht nur ihre Kindheit, sondern auch ihre schulischen und universitären Laufbahnen waren völlig unterschiedlich. Doch vor 15 Jahren haben sich ihre Wege in Graz gekreuzt, und die beiden wurden Freunde. Seither diskutieren sie über den gesellschaftlichen Zusammenhalt in einer pluralen Gesellschaft. Ihr erstes gemeinsames Buch ist zu einem „Dokument der Freundschaft“ geworden und will „ein kleines Zeichen gegen die neue Härte in unserer Gesellschaft sein“ und zu „echter Menschlichkeit anstiften“, schreiben die beiden eingangs.

Abualwafa sieht eine problematische Spannung: „Eine wachsende Islamfeindlichkeit und ein antiwestlicher Islamismus stehen sich immer aggressiver gegenüber. Dazwischen vermittelnd wird man recht rasch als Verräter beschimpft.“ (13) Dies werde durch die „sozialen Medien“ noch angeheizt. Glettler: „Neu und erschreckend ist die Aggressivität, mit der die Grenzen zwischen den diversen Lebenswelten gezogen werden. Die Härte schockiert. Die anderen werden nicht nur als Idioten denunziert, sondern gleich einmal als Verbrecher, die man eigentlich loswerden sollte.“ (14) „Wir müssen unbedingt daran arbeiten, die gefährlichen Freund-Feind-Schemata zu überwinden – hier ,die Unsrigen, dort die anderen‘.“, meint Glettler. Und Abualwafa ergänzt: „In jedem Fall ist der Einsatz für eine dialogfähige Gesellschaft eine Schicksalsfrage für unsere Zukunft“. (17)

Bezüglich der immer wieder vorgebrachten Angst vor dem „Verlust der Identität“ sagt Bischof Glettler: „Identität entsteht durch Kommunikation, bleibt lebendig durch Begegnungen und gute Beziehungen – nicht durch Abschottung und Isolation“ (23) Abualwafa ergänzt: „Menschen müssen miteinander kommunizieren können, damit Beziehungen über die ethnisch-kulturellen Ränder hinaus wachsen können. Jede Form der Ghettoisierung ist gefährlich, egal ob selbst oder fremd verschuldet. Und die Angst vor den Fremden schwindet, sobald die Leute ihre Konflikte ausdiskutieren können.“ (24)

In diesem Zusammenhang diskutieren der Bischof und der Imam auch über das Thema „Freiheit“, das Freiheitsrechte und Freiheitspflichten beinhalte. Individualität und Solidarität dürften nicht zu weit auseinandertriften. Beide plädieren dafür, dass es bei Konflikten zwischen unterschiedlichen Freiheitsansprüchen wichtig sei, „sich nicht von negativen, polarisierenden Tendenzen treiben zu lassen“ (61) Glettler fasst seinen Freiheitsbegriff zusammen: „Wirklich frei ist, wer zu echter Empathie fähig ist, zu einem ganz selbstverständlichen Dasein für andere – nicht fixiert auf die eigenen Befindlichkeiten und Probleme.“ (65)

Ein weiteres Gesprächsthema ist der Hass und daraus entstehende Gewalt, die oft auf erlittene Ungerechtigkeiten oder Kränkungen zurückgehen. Abualwafa: „Mir kommt es so vor, dass Kränkungen und innere Wut das Feuer legen. Der Hass ist dann der Brandbeschleuniger.“ (92) Glettler: „Direkte Begegnungen, ehrliche Gespräche und gegenseitiges Zuhören scheinen mir der einzige Ausweg zu sein, um die gewohnten Muster von Frust und Vergeltung zu verlassen“. (104)

Natürlich unterhalten sich die beiden auch über die Rolle der Religionen als Hoffnungsgeber, aber auch über deren Missbrauch zur Legitimation von Gewalt. „Wenn unsere Kirchen und Religionsgemeinschaften nicht dazu dienen, dass sich Menschen aufrichten können und Zukunftsmut schöpfen, sollten wir uns abmelden“ (110), meint dazu Bischof Glettler. Abualwafa stimmt ihm zu und ergänzt: „Statt uns von Krisen entmutigen zu lassen, sollten wir unsere Energie für positive Veränderungen einsetzen. Die Welt braucht gerade jetzt Menschen, die nicht aufgeben, sondern zur Heilung unserer verwundeten Welt beitragen.“ (120)

Im Schlusskapitel zitiert Bischof Glettler den Dichter Hermann Hesse:  „Ihr mögt es mit Jesus halten oder mit Plato, mit Schiller oder mit Spinoza, überall ist das die letzte Weisheit, dass weder Macht noch Besitz noch Erkenntnis selig macht, sondern allein die Liebe.“ (160) Und Abualwafa antwortet mit dem Sufi-Gelehrten Ibn Arabi: „Meine Religion ist die Liebe, wohin sie auch immer führt. Das ist mein Glaube, mein einzig wahrer Glaube.“ (161)

Obwohl beide Autoren Theologen sind, handelt es sich nicht um ein theologisches Buch, sondern um den Austausch von praktischen Lebenserfahrungen. Man erfährt nicht nur einiges über das Leben und Wirken der beiden Autoren, sondern auch über ihre Religion, vor allem aber geht es um vorurteilsfreies, ehrliches Aufeinanderzugehen und um Anstiften zu einer ehrlichen Menschlichkeit. Es ist keine Streitschrift, sondern niedergeschriebener mündlicher Dialog, in dem das Gemeinsame über das Trennende gestellt wird.

Adalbert Krims