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EIN
PONTIFIKAT IM ZEICHEN VON GERECHTIGKEIT, FRIEDEN UND BEWAHRUNG DER SCHÖPFUNG
Zum
Tod von Papst Franziskus
Von
Adalbert Krims
Am Ostermontag Vormittag ging die Eilmeldung um die Welt: „Papst
Franziskus ist um 7:35 h im Alter von 88 Jahren verstorben.“ Noch am Vortag
– dem Ostersonntag – zeigte er sich ein letztes Mal der Öffentlichkeit auf dem
Petersplatz in Rom und weltweit über die Bildschirme, als er zu Mittag mit kaum
vernehmbarer Stimme den Segen „Orbi et Orbi“ spendete. Seine
Osterbotschaft wurde von seinem Zeremonienmeister, Erzbischof Diego Giovanni
Ravelli, verlesen. Es war der letzte öffentliche
Auftritt von Franziskus, womit seine letzten Worte auch einen testamentarischen
Charakter tragen:
„Es kann keinen Frieden geben ohne echte Abrüstung! Der Anspruch
eines jeden Volkes, für seine eigene Verteidigung zu sorgen, darf nicht zu
einem allgemeinen Wettrüsten führen. Das Osterlicht spornt uns an, die
Schranken zu überwinden, die Spaltungen hervorrufen und eine Vielzahl an
politischen und wirtschaftlichen Konsequenzen nach sich ziehen. Es spornt uns
an, füreinander zu sorgen, die gegenseiti-ge
Solidarität zu stärken und uns für eine ganzheitliche Entwicklung aller
Menschen einzusetzen. […] Ich appelliere an alle, die in der Welt politische
Verantwortung tragen, nicht der Logik der Angst nach-zugeben, die verschlossen
macht, sondern die verfügbaren Ressourcen zu nutzen, um den Bedürftigen zu
helfen, den Hunger zu bekämpfen und Initiativen zu fördern, die die Entwicklung
vorantreiben. Die ‚Waf-fen‘ des Friedens sind
diejenigen, die Zukunft schaffen, anstatt Tod zu säen!“
19 Stunden später war der Papst tot. Und weltweit meldeten
sich jene öffentlich zu Wort, an die sein letzter Appell gerichtet war. Doch
die Reaktionen, die zwar voll der Bewunderung für den Verstorbenen waren,
zeigten leider auch, dass die päpstlichen Appelle – wie schon in den
vergangenen Jahren – auf taube Ohren gestoßen sind. Auch beim Begräbnis
versammelte sich die politische Weltelite und trauerte um jenen Mann, dessen
Worte sie zu seinen Lebzeiten bestenfalls ignoriert bzw. ihnen sogar direkt zuwi-dergehandelt haben.
Jorge Mario Bergoglio wurde
am 17. 12. 1946 als Sohn italienischer Einwanderer (der Vater war
Eisen-bahnarbeiter) in Buenos Aires geboren. Er wuchs zweisprachig und als
Doppelstaatsbürger auf, so dass er zwar der erste lateinamerikanische Papst
war, aber kein nicht-italienischer. Bergoglio absolvierte nach seiner Schulzeit
ein Diplomstudium in Chemietechnik. 1959 trat er in den Jesuitenorden ein,
wurde 1969 zum Priester geweiht und wurde bereits vier Jahre später (im Alter
von nur 37 Jahren!) Provinzial seines Ordens für Argentinien. In diese Zeit
fielen auch die Jahre der Militärdiktatur (1976 – 1983), in der er zwar kein
Widerstandskämpfer war, aber – im Unterschied zur Mehrheit der argentinischen
Bischöfe auch kein Unterstützer der Generäle (auch wenn das in einigen
Nachrufen behauptet wird). Und immerhin hat er auch vielen politisch Verfolgten
geholfen. Anschließend (1980 – 1986) war er Rektor der Theologi-schen
Hochschule der Jesuiten in Buenos Aires, studierte und lebte 1985/86 aber auch
einige Monate in Deutschland. 1992 wurde Bergoglio Weihbischof, 1998 Erzbischof
von Buenos Aires und 2001 zum Kardinal ernannt. 2005 wurde er zum Vorsitzenden
der argentinischen Bischofskonferenz gewählt.
Seine Popularität als Bischof verdankte Bergoglio vor allem
seinem einfachen Lebensstil und seiner glaubwürdigen Solidarität mit den Armen.
So wohnte er nicht im Bischofspalast, sondern in einer nor-malen
Wohnung und fuhr mit der U-Bahn. Und er prangerte bei einer
lateinamerikanischen Bischofs-versammlung die „ungleiche Verteilung der
Güter“ als „soziale Sünde“ an.
Eine arme Kirche für die Armen
Am 13. 3. 2013 wurde Kardinal Bergoglio – nach dem
überraschenden Rücktritt von Papst Benedikt XVI. – in einem der
kürzesten Konklave der Kirchengeschichte mit großer Mehrheit zum 266. Bischof
von Rom und damit zum Oberhaupt der weltweiten katholischen Kirche gewählt. Zur
großen Überra-schung wählte er keinen der bisherigen
Papstnamen, sondern einen, den es noch nie gegeben hat: Fran-ziskus. Und er begründete seine Namenswahl, die
zugleich das Programm seines Pontifikats darstellte, mit dem Heiligen Franz von
Assisi: „Für mich ist er der Mann der Armut, der Mann des Friedens, der
Mann, der die Schöpfung liebt und beschützt.“ Bei seinem ersten
öffentlichen Auftritt hat der Papst be-kräftigt:
„Wie sehr wünsche ich mir eine Kirche, die arm ist und für die Armen da ist!“
Er wolle an die Ränder, an die Peripherie gehen – geographisch und sozial.
Symbolisch verzichtete Franziskus auf seine Wohnung im
Apostolischen Palast und übersiedelte ins Gä-stehaus
des Vatikans, wo er auch im gemeinsamen Speiseraum aß. Statt der großen
päpstlichen Limou-sine benützte er lieber einen
kleinen Fiat. Abgesehen von diesen persönlichen Zeichen setzte er dann auch
gleich im Juli 2013 einen demonstrativen Akt: Seine erste Reise als Papst
führte ihn nach Lampe-dusa, um auf das Schicksal der
Bootsflüchtlinge aufmerksam zu machen. Das Sterben im Mittelmeer nannte er
einen „stummen, aber ohrenbetäubenden Schrei, der uns nicht gleichgültig
lassen darf“. Und er prangerte die „Globalisierung der Gleichgültigkeit“
angesichts der humanitären Katastrophe an.
Mitte April 2016 traf sich Franziskus mit dem
Ehrenoberhaupt der Orthodoxie, Patriarch Bartholo-maios,
im Flüchtlingslager Moría auf der griechischen Insel
Lesbos zu einem Solidaritätsbesuch für die dort untergebrachten Flüchtlinge.
Auf dem Rückflug nahm der Papst 3 muslimische Flüchtlingsfamilien aus Syrien
und Afghanistan mit in den Vatikan, wo sie seither auf Kosten des Heiligen
Stuhls leben. Mehr als 5 Jahre später, Anfang Dezember 2021 besuchte der
Papst noch einmal Lesbos und sagte, dass das Mittelmeer, die „Wiege
zahlreicher Zivilisationen“, zum „kalten Friedhof ohne Grabsteine"
und einem „Spiegel des Todes“ werde und fügte hinzu: „Ich bitte euch,
lasst uns diesen Schiffbruch der Zivili-sation
stoppen“. Anlässlich des Welttags der Migranten und Flüchtlinge 2018
betonte der Papst, dass die gemeinsame Antwort auf die Flüchtlingskrise „durch
vier Verben ausgedrückt werden kann: aufnehmen, schützen, fördern und
integrieren.“
Rettung der Schöpfung
Ein zentrales Anliegen von Franziskus bestand darin, den „Schrei
der Armen“ mit dem „Schrei der Schöp-fung“
zu verbinden, also die soziale Frage mit der Umwelt- und Klimaproblematik. Das
brachte er ein-dringlich in seiner viel beachteten Enzyklika „Laudato Sí. Über die Sorge für das gemeinsame Haus“ zum
Ausdruck, die er am Vorabend der UNO-Klimakonferenz in Paris (COP21) im Juni
2015 veröffentl-ichte und in der er sich für eine
ganzheitliche Ökologie aussprach („alles ist miteinander verbunden“.).
Für ihn sei Laudato si’ nicht nur eine Umweltenzyklika, sondern darüber hinaus
auch eine Sozialenzykli-ka: „Wir müssen erkennen,
dass ein echter ökologischer Ansatz immer auch ein sozialer Ansatz ist; er muss
Fragen der Gerechtigkeit in die Debatten um die Umwelt einbeziehen, um sowohl
den Schrei der Erde als auch den Schrei der Armen zu hören“.
7 Jahre später, am Vorabend der COP28 in Dubai,
veröffentlichte Franziskus als Folgedokument das Apostolische Schreiben „Laudate Deum“, in
dem er zu einem konsequenten Handeln in der Klimakrise aufruft und sich gegen
die Leugnung des Klimawandels wendet. In einer weiteren Enzyklika, „Fratelli
tutti“ über Geschwisterlichkeit und soziale Freundschaft sprach der Papst
angesichts der weitverbreiteten Zerstörung der Ökosysteme die eindringliche
Warnung aus: „Wir sitzen im selben Boot: Entweder retten wir uns alle
gemeinsam, oder niemand wird gerettet“.
Diese Wirtschaft tötet!
Die soziale Frage sowie die Umwelt- und Klimaproblematik
sind für ihn eng mit der Frage einer gerechten Wirtschaft verknüpft. In seinem
ersten Apostolischen Lehrschreiben „Evangelii
Gaudium. Über die Verkündigung des Evangeliums in der Welt von heute“ vom
13. 11. 2013 formulierte es Franziskus drastisch: „Diese Wirtschaft tötet“.
. „Evangelii Gaudium“ ist das erste
kirchliche Papier, das sich mit dem internationalen Finanzkapitalismus und
seinen Mechanismen befasst.
Weil sich alles nach den Kriterien der Konkurrenzfähigkeit
und dem Gesetz des Stärkeren abspielt, wo der Mächtigere den Schwächeren zunichte macht. Die Ausgeschlossenen aber „sind nicht
‚Ausgebeutete‘, sondern Müll, ‚Abfall‘“. Wir haben „neue Götzen
geschaffen“ in der „Diktatur einer Wirtschaft ohne Ge-sicht und ohne
wirklich menschliches Ziel.“ Alles Schwache „ist wehrlos gegenüber den
Regeln eines vergötterten Marktes, die zur absoluten Regel werden.“
Franziskus zitiert den Kirchenvater Chrysostomos: „Die eigenen Güter
nicht mit den Armen zu teilen, bedeutet, diese zu bestehlen und ihnen das Leben
zu entziehen.“
Papst Franziskus hat im November 2020 erstmals eine Gruppe
junger Ökonomen und Unternehmer aus der ganzen Welt nach Assisi eingeladen, um
sich Gedanken über einen globalen Wandel
zu machen, da-mit die Wirtschaft von heute und morgen gerechter, inklusiver und
nachhaltiger wird. Seither finden jährlich Veranstaltungen statt, an denen
Papst Franziskus auch persönlich teilgenommen hat. Das Projekt steht unter dem
Motto „The Economy of Francesco“
(https://francescoeconomy.org).
Erstmals in der Geschichte des Papsttums hat Papst
Franziskus mehrfach globale soziale Bewegungen empfangen. Das erste Treffen
fand Ende Oktober 2014 im Vatikan statt, wobei der Papst drei zentrale Themen
hervorhob: Boden, Arbeit, Wohnung. Der 2. weltweite Kongress der
Volksbewegungen mit dem Papst fand im Juli 2015 in Santa Cruz in Bolivien statt
und hatte als zentrale Themen: 1. die Wirtschaft in den Dienst der Völker
stellen; 2. Frieden und Gerechtigkeit aufbauen; 3. die Mutter Erde verteidigen.
Das 3. Treffen Anfang November 2016 fand wieder im Vatikan statt. Hier hob der
Papst hervor: 1. die falsche Sicherheit physischer oder sozialer Mauern.
2. Ein Brücken-Plan der Völker gegenüber
dem Mauer-Plan des Geldes. Ein Plan, der auf die ganzheitliche Entwicklung des
Menschen abzielt. 3. Der „Bankrott‹ der Menschheit“ im Zusammenhang mit
dem Flüchtlingselend: Wenn eine Bank bankrott geht, tauchen sofort skandalöse Summen auf, um sie
zu retten, wenn jedoch dieser Bankrott der Mensch-heit
erzeugt wird, gibt es fast nicht einmal ein Tausendstel davon. 2021 fand das 4.
Treffen des Papstes mit den Volksbewegungen wegen der Corona-Pandemie nur
digital statt. Die letzte Begegnung gab es am 20. 9. 2024 im Vatikan, wo der
Papst eine Dreiviertelstunde überwiegend aus dem Stegreif sprach. Dabei
unterstützte er klar die Forderung nach einer stärkeren Besteuerung der
Superreichen. Der über-proportionale Reichtum habe oft wenig mit Verdienst und
Gehältern zu tun, denn viele große Vermögen seien geerbt, andere das Ergebnis
von Ausbeutung, Steuerhinterziehung oder auch blutiger Formen von Kriminalität.
Die soziale Spaltung öffne den Weg zu verbaler Gewalt, diese zu physischer
Gewalt, und am Ende stehe der Krieg jeder gegen jeden, führte Franziskus aus.
Frieden schaffen ohne Waffen
Für Papst Franziskus gibt es auch eine enge Verbindung
zwischen Wirtschaft und Frieden. In seiner Botschaft zum Weltfriedenstag am 1.
1. 2020 formulierte er: „Es wird nie einen wahren Frieden geben, wenn wir
nicht in der Lage sind, ein gerechteres Wirtschaftssystem aufzubauen."
Und in der Weihnachtsbotschaft 2023 bezeichnete er die Waffenindustrie als den
„Drahtzieher des Krieges“ und ergänzte: „Um aber ‚Nein‘ zum Krieg zu
sagen, muss man ‚Nein‘ zu den Waffen sagen… Wie kann man von Frieden sprechen,
wenn Produktion, Verkauf und Handel von Waffen zunehmen?“ Am 28. 7. 2024
sagte der Papst beim Angelus-Gebet auf dem Petersplatz: „Während so viele
Menschen auf der Welt unter Katastrophen und Hunger leiden, werden weiterhin
Waffen gebaut und verkauft und Ressourcen verbrannt, die große und kleine
Kriege anheizen. Das ist ein Skandal, den die internationale Gemeinschaft
nicht dulden darf.“
Ukraine
Papst Franziskus setzte sich konsequenterweise überall für
einen Waffenstillstand ein – sei es in der Ukraine oder in Gaza. Auch wenn ihm
das oft als „Naivität“ ausgelegt wurde, für ihn können Kriege keine Lösung von
Konflikten bringen, sondern diese nur verschärfen. Bezüglich Ukraine hat der
Papst einen Vermittlungsversuch durch Entsendung eines päpstlichen
Sondergesandten (Kardinal Matteo Zuppi)
unternommen, der aber – außer einem Gefangenenaustausch – kein Ergebnis
gebracht hat. Auf Kritik im Westen und in der Ukraine ist der Papst vor allem
durch ein Interview mit den europäischen Kulturzeitschriften der Jesuiten vom
14. 6. 2022 gestoßen. Er verurteilte dort zwar den russischen An-griffskrieg, meinte jedoch, man müsse sich „von dem
üblichen Schema des ‚Rotkäppchens‘ lösen: Rot-käppchen war gut und der Wolf war
der Bösewicht. Hier gibt es keine metaphysisch Guten und Bösen auf abstrakte
Art und Weise“. Franziskus zitierte einen nicht genannten Staatschef der
ihm einige Monate vor dem russischen Angriff vom 24. 2. 2022 seine Besorgnis
über die Entwicklung der NATO mitgeteilt habe: „Sie bellen vor den Toren
Russlands. Und sie verstehen nicht, dass die Russen imperial sind und keiner
fremden Macht erlauben, sich ihnen zu nähern… Die Situation könnte zu einem
Krieg führen“. Auf den Einwand, ob er damit nicht für Putin sei, antwortete
der Papst: „Nein, das bin ich nicht… Ich bin einfach dagegen, die
Komplexität auf die Unterscheidung zwischen Gut und Böse zu reduzieren, ohne
über die Wurzeln und Interessen nachzudenken, die sehr komplex sind.“
Gaza
Bezüglich Gaza hat der Papst wiederholt das Massaker der Hamas
vom 7. 10. 2023 verurteilt, die Freilassung der Geiseln gefordert und sich klar
gegen den Antisemitismus ausgesprochen. Zugleich hat er aber auch immer auf das
Leiden der palästinensischen Zivilbevölkerung hingewiesen und die israelische
Kriegsführung kritisiert. Außerdem hat er fast jeden Abend per Videoschaltung
mit dem katholischen Pfarrer von Gaza, dem argentinischen Priester Gabriel Romanelli, und seiner Gemeinde telefoniert. Kurz vor
Weihnachten 2024 sagte der Papst: „Mit Schmerz denke ich an Gaza, an so viel
Grausamkeit; an die Kinder, die mit Maschinengewehren beschossen werden, an die
Bombardierung von Schulen und Krankenhäusern“. 1 Monat vorher (17. 11. 24)
waren in Medien Auszüge aus einem neuen Interviewbuch mit Papst Franziskus
bekannt geworden, wo er u. a. sagte: „Nach Ansicht einiger Experten weist
das Geschehen in Gaza die Merkmale eines Völkermords auf. Wir sollten
sorgfältig prüfen, ob es in die von Juristen und internationalen Gremien
formulierte technische Definition passt."
Allein schon die Forderung nach Prüfung der Vorwürfe löste in Israel
heftige Reaktionen aus. Der Papst wurde nicht nur von Medien, sondern auch von
Regierungspolitikern als „Antisemit“ bezeichnet. Das führte auch dazu,
dass die israelische Regierung zum Tod von Papst Franziskus nicht einmal
kondolierte. Israels Außenministerium ging sogar so weit, bereits gepostete
Stellungnahmen einiger Botschaften in den sozialen Medien, die Formulierungen
wie „Ruhe in Frieden, Papst Franziskus“ enthielten, wieder löschen zu
lassen.
Papst Franziskus nahm aber nicht nur zu den Kriegen in der
Ukraine und in Gaza Stellung, sondern versuchte auch, durch Reisen und
öffentliche Erklärungen „vergessene“ Kriege und Konflikte ins Licht der
Öffentlichkeit zu rücken: von Myanmar über den Jemen und den Südsudan bis zum
Kongo. Und er wurde nicht müde, Gewalt und Kriege zu verurteilen und auf Verhandlungen
und gewaltfreie Lösungen zu drän-gen. Leider muss man hier nüchtern
bilanzieren, dass die Bemühungen des Papstes nicht von Erfolg gekrönt waren.
Im Zusammenhang mit dem Friedensengagement von Franziskus
muss auch hervorgehoben werden, dass er als erster Papst nicht nur den Einsatz
und die Drohung mit dem Einsatz von Atomwaffen, sondern auch deren Besitz als „unmoralisch“
verurteilt hat. Und er hat sich wiederholt für eine „globale politische
Kultur der Gewaltfreiheit“ ausgesprochen.
Religionen und Frieden
Gerade im Zusammenhang mit dem Thema Krieg und Frieden muss
auch auf das interreligiöse Engagement von Papst Franziskus hingewiesen werden.
Für ihn war der Frieden zwischen den Religionen und die Zusammenarbeit der
Religionen als Friedensstifter ein zentraler Beitrag zum Weltfrieden: „Die
Religionen sind nicht das Problem, sondern Teil der Lösung ,im Geist der
Geschwisterlichkeit‘“, sagte er am 14. 9. 2022 beim „Weltkongress der
Religionen“ in Kasachstan. Und am
18. 10. 2017 betonte er im Vatikan vor einer Delegation der „Weltkonferenz
der Religionen für den Frieden“: „Die Religionen sind naturgemäß dazu
bestimmt, Frieden, Gerechtigkeit, Brüderlichkeit, Entwaffnung sowie den Schutz
der Schöpfung zu fördern".
Eine besondere Bedeutung kam dem „Dokument über die
Brüderlichkeit aller Menschen für ein friedliches Zusammenleben in der Welt“
zu, das der Papst am 4. 2. 2019 gemeinsam mit dem Großimam
Achmed al-Tayyeb in Abu Dhabi unterschrieb. Es
war der erste Besuch eines Papstes auf der arabischen Halbinsel – genau 800
Jahre nachdem Franz von Assisi in Ägypten den Sultan al-Malik
al-Kamil traf, was für den Papst die Geburtsstunde des
christlich-muslimischen Dialogs war. In der Erklärung von Abu Dhabi
bekräftigten das Oberhaupt der römisch-katholischen Kirche und der Scheich der
al-Azhar-Mo-schee als wichtigster sunnitischer
Islamgelehrter, dass „Religionen niemals Grund für Krieg, Hass,
Feindseligkeit und Extremismus sein dürfen und auch nicht zu Gewalt oder
Blutvergießen führen kön-nen.“ Und sie erklärten,
dass „Freiheit ein Recht jedes Menschen ist: Jeder genießt die Freiheit des
Glaubens, Denkens, Ausdrucks und Handelns. Der Pluralismus und die Vielfalt der
Religionen, Hautfarben, Geschlechter, Rassen und Sprachen sind von Gott in
Seiner Weisheit gewollt.“
Ein ähnliches Dokument, die „Erklärung von Istiqlal“, unterzeichnete Papst Franziskus am 9. 9.
2024 bei seinem Besuch in Indonesien gemeinsam mit dem Großimam
Nasaruddin Umar. Beide verurteilten die
Instrumentalisierung von Religion für Kriege und Konflikte und stellten fest: „Da
es eine einzige globale Menschheitsfamilie gibt, sollte der interreligiöse
Dialog als wirksames Instrument zur Lösung lokaler, regionaler und
internationaler Konflikte anerkannt werden“. Unterstützt wird der Appell neben Katholiken und Muslimen auch von
Buddhisten, Hindus, Protestanten sowie Vertretern des Konfuzianis-mus.
Papst Franziskus hat in seinem 12jährigen Pontifikat nicht
nur in seiner Kirche viel bewegt, er hat darüber hinaus Anerkennung von anderen
Religionsgemeinschaften und der säkularen Welt gewonnen, weil er immer das
Gemeinsame vor das Trennende gestellt hat. Bei einer Begegnung mit Mitgliedern
von Dialop (Transversaler Dialog zwischen Christen
und Marxisten) im Vatikan im Jänner 2024 betonte er die wahre Bedeutung von
Solidarität: „Solidarität ist nicht nur eine moralische Tugend, sondern auch
ein Erfordernis der Gerechtigkeit, die eine Korrektur der Verzerrungen und
eine Läuterung der Absichten ungerechter Systeme erfordert, nicht zuletzt einen
Perspektivenwechsel bei der Aufteilung der Herausforderungen und Ressourcen
unter den Einzelnen und zwischen den Völkern.“
Luis Zambrano
LEO
XIV: EIN NEUER PAPST
FÜR ALTE
HERAUSFORDERUNGEN
Sein Engagement als Priester und Bischof in Peru
Ich habe Bischof Robert Prevost nicht persönlich gekannt.
Er wirkte mehrere Jahrzehnte im Norden Perus. Ich habe jedoch oft von seiner
guten Arbeit gehört. Zunächst war er Missionar und lebte einfach und freundlich
unter den Menschen. Er betonte oft, dass er viel von ihnen gelernt habe. Er war
also ein missionierender, zugleich aber missionierter Priester.
Unter den Bischöfen gehörte er zu den engagiertesten. Diese
Gruppe ließ nicht zu, dass Kardinal Cipriani der Päpstlichen Katholischen
Universität von Peru ihre Unabhängigkeit nahm. Außerdem war sein Enga-gement wichtig dafür, dass Papst Franziskus im Januar
2025 jene Gemeinschaft, die sich „Sodalitium“ nannte,
endgültig aufgelöst hat. Diese 1971 in Lima gegründete katholische Institution
mit sektenähnlichem Charakter wurde 1997
von Papst Johannes Paul II. zu einer „Kongregation päpstlichen Rechts“ erhoben
und missbrauchte ihre Mitglieder häufig, auch sexuell.
Im Jahr 2015 wurde Robert Prevost zum Bischof von Chiclayo
ernannt. In dieser Diözese hatten die Bischöfe des Opus Dei
54 Jahre lang, von 1961 bis 2015, regiert. Als deren Nachfolger und angesichts
einer Mehrheit von Opus-Dei-Priestern suchte Prevost
nicht die Konfrontation, sondern die Zusammen-arbeit. Mit Christen guten
Willens begann er erfolgreich eine Pastoralreform mit folgenden Schwerpunkten:
Spiritualität, aufmerksames Hören auf die Menschen und Gemeinden, entschlossene
Arbeit mit Laien, Frauen und Männern, eine Sozialpastoral, die in den
vorherigen Jahrzehnten keine Rolle gespielt hatte.
In schwierigen Situationen zeigte er sich stets sehr
solidarisch, praktisch und entschieden. So stand er beispielsweise in der Zeit
des Terrorismus den Betroffenen ständig zur Seite.
Während der Pandemie organisierte er gemeinsam mit den
Behörden die Bevölkerung und erreichte den Kauf von zwei Sauerstoffgeräten. Bei
mehreren Überschwemmungen leistete er über die Caritas kontinuierliche Hilfe.
Als große Mengen von Migranten aus Venezuela nach Chiclayo kamen, nahm er sie
auf und richtete „Zufluchtshäuser“ ein. Er pflegte zu sagen: „Ich bin
auch ein Migrant“.
Die Menschen im Norden Perus, insbesondere in Chiclayo,
erinnern sich an seine Güte, seine Nähe, seine Einfachheit und Freundlichkeit,
mehr an Taten als an Worte, an seinen Mut gegenüber Herausforderungen. Darüber
hinaus hat er in bestimmten politischen Situationen stets eine kritische
Meinung geäußert. So kritisierte er beispielsweise die Freilassung des
ehemaligen Diktators Fujimori und forderte von ihm eine aufrichtige
Entschuldigung gegenüber seinen Opfern. Als vor zwei Jahren die Regierung von
Dina Boluarte 50 Demonstranten durch uniformierte Kräfte töten ließ, setzte
sich Prevost für die Opfer und ihre Familien ein.
Seit Januar 2023 leitete er im Vatikan das Dikasterium für
die Bischöfe. Seitdem haben sich die Bischofs-ernennungen in Peru verbessert,
aber nicht in allen Fällen. Es sind weiterhin Bischöfe im Amt, gegen die viele
Vorwürfe erhoben werden und die beim Volk unbeliebt sind. Dies zu korrigieren,
ist eine schwierige, aber notwendige Aufgabe.
Was ist zu erwarten?
Nach diesem langjährigen, wertvollen Engagement ist seit
Beginn seines Pontifikats zu erkennen, dass Leo XIV. das fortsetzen will und
wird, was Papst Franziskus in Wort und Tat betont hat, z. B. die Verurteilung
jedes Krieges und das unermüdliche Streben nach Frieden, die Liebe zur Mutter
Erde (Pacha-mama) und ihre Verteidigung sowie die Unterstützung von
Migrantinnen und Migranten. Darüber hinaus wird er sich für eine arme Kirche
der Armen einsetzen, eine Kirche der Peripherie, in der Laien, Männer und
Frauen, ernst genommen werden, in der man den Klerikalismus und sexuellen
Missbrauch durch Bischöfe und Priester bekämpft. Er wird weiterhin Wert auf Synodalität legen, ebenso wie auf die Umset-zung
des Zweiten Vatikanischen Konzils im Sinne von Franziskus, auf wirtschaftliche
Transparenz im Vatikan und auf die Fortsetzung der Kurienreform.
Natürlich wird Leo XIV. so handeln, wie es seiner
Persönlichkeit und seinem Wesen entspricht, das von seiner augustinischen
Tradition geprägt ist. Und auch als Nordamerikaner, der fast 40 Jahre lang als
Missionar in Peru gelebt und intensiv gearbeitet hat. Kurz gesagt, Leo XIV.
bedeutet ein Hoffnungszeichen für Kirche und Menschheit.
Das bedeutet nicht, dass Leo XIV. perfekt ist. Als ein
Journalist Papst Franziskus nach sich selbst fragte, antwortete er: „Ich bin
ein Sünder und jemand, der Fehler macht.“
Dessen bin ich mir sicher: Wenn Leo XIV. die notwendigen
Reformen fortsetzt, werden verschiedene Personen und Gruppen, die an den
Gewohnheiten der Vergangenheit festhalten wollen, ihn heftig angreifen, so wie
sie es mit Franziskus getan haben.
Die Bedeutung von Leo XIV.
Der Theologe Leonardo Boff sagte, als Jorge Bergoglio Papst
wurde: „Mit Franziskus beginnt eine Reihe lateinamerikanischer Päpste.“
Mit Leo XIV. hat sich diese Prophezeiung erfüllt. Noch einmal sei drauf
verwiesen ist, dass der neue Papst Nordamerikaner ist und lange als Missionar
in Peru, in Lateinamerika, gearbeitet hat. Durch ihn wird nicht nur die
lateinamerikanische Kirche sichtbar, sondern auch die nord-amerikanische. Er
repräsentiert also die Kirche ganz Amerikas. Das verschafft ihm einige
Vorteile: Er kennt das Monster von innen und kann Trump und seinesgleichen mit
klareren Argumenten begegnen. Er kann auch die Botschaft der
lateinamerikanischen Kirche an die nordamerikanische Kirche weitergeben. Und
das wird Früchte tragen.
Schließlich sieht sich der neue Papst einer Welt des
Unglaubens gegenüber, beispielsweise in den USA, Europa und Australien, wo die
Unzufriedenheit mit den etablierten Religionen wächst. Dies stellt die Kirche
vor zahlreiche Herausforderungen, denen sich Leo XIV. stellen muss, die aber
seine Vorgänger nicht bewältigen konnten: die jahrtausendealte Organisation der
Kirche in von einem Priester geleiteten Pfarreien zu überdenken, in denen der Sakramentalismus zum Nachteil der Evangelisierung betont
wurde und die zu religiösen Geschäftszentren geworden sind. In seinen zwölf
Jahren als Papst hat Franziskus diese Praxis verurteilt. Die Erneuerung der
Kirche durch die Förderung einer Pluralität von Gemeinschaften mit einer
entschiedenen Präsenz der Laien über territoriale Grenzen hinweg ist eine
enorme Herausforderung.
Eine weitere Herausforderung ist die schrittweise
Abschaffung des im 12. Jahrhundert eingeführten Zölibats für Priester. Darüber
hinaus muss als erster Schritt die Priesterweihe für verheiratete Männer
ernst-haft in Betracht gezogen werden. Dies ist ein Ruf der gesamten Kirche.
Wie wir sehen, handelt es sich um eine Reihe von
Herausforderungen. Wir haben nur einige davon skizziert. Der Wandel hängt nicht
allein vom Papst ab. Alle Gläubigen, wo immer wir uns befinden, sind aufgerufen,
zur Erneuerung der Kirche und der Welt beizutragen.
EINE NEUE KIRCHE IST MÖGLICH! AUCH EINE NEUE WELT IST
MÖGLICH!
Luis Zambrano Rojas, katholischer Priester und Dichter, 1946
in Ica (300 km südöstlich der peruanischen Haupt-stadt Lima) geboren und dort
in einfachen Verhältnissen aufgewachsen. Sein Weg führte ihn durch viele
Studien-jahre in Lima, Innsbruck und Tübingen. Während seines Aufenthalts in
Innsbruck war er auch in Kontakt mit der AKC, der seither nie abgerissen ist.
Seit über 40 Jahren lebt und arbeitet Luis in Puno im
äußersten Südosten Perus am Titicaca-See, seit 1994 ist er Pfarrer in „Pueblo de Dios“, einer
Pfarrei mit 120 000 Menschen in Juliaca in der Region
Puno. Sein Wirken brachte ihn oft in Gefahr – in den
1980er-Jahren geriet er zwischen die Fronten der peruanischen Armee und
Guerilla-Gruppen. Auf der Seite der Entrechteten klagte er die systematische
Unter-drückung und Übergriffe an. Im Jänner 2023
stellte er sich erneut gegen staatliche Gewalt: Bei friedlichen Protesten von
Indigenen und Kleinbauern wurden wahllos Menschen erschossen. Zambrano machte
diese Verbrechen international bekannt. Gemeinsam mit Sei So
Frei und der Menschenrechtsorganisation FEDERH begleitet er die Hinterbliebenen
der Opfer. Dafür hat ihn die peruanische Menschenrechtskoordination mit ihrem
Menschenrechts-preis ausgezeichnet. Im März 2025 hat
die Katholische Männerbewegung Österreichs beschlossen, den dies-jährigen
Romero-Preis an Luis Zambrano zu verleihen. Die Übergabe findet am 14. November
in Graz statt.
Jussuf Windischer
DER
LANGE WEG DER ROM/NJAS –
IM KREISLAUF DER
ARMUT
Hintergründe und Überlegungen, ein Erfahrungsbericht
Einleitung
Vor 30 Jahren lernte ich die Rom/njas,
ArmutsmigrantInnen aus dem Osten, kennen. Seitdem
begleite ich sie. Sie nächtigten in Autos oder unter der Autobahnbrücke, dann
in der Kapelle des Caritas-Integrationshauses, später in bereitgestellten
Containern. Seit 13 Jahren in der Vinziherberge Waldhütttl
und neuestens auch in der VG Herberge Poltenhof. In
den beiden Herbergen sind z. Z. ca. 60 Personen untergebracht: Männer, Frauen,
auch Kinder. Die Herbergen haben kein Personal, auch keine Subventionen.
Ehrenamtliche MitarbeiterInnen begleiten die Herbergen.
ArmutsmigrantInnen im Überlebenskampf
Notschlafstellen sind überfüllt, man muss in der Früh
wieder hinaus und kann erst am Abend wieder kommen, in der Hoffnung wieder
aufgenommen zu werden. Paare werden getrennt, kommen in verschiedene
Schlafräume. Wenn das Paar Kinder hat, gibt es noch mehr Probleme.
Die Leute haben keine „richtige Arbeit“, fretten sich mit
Gelegenheitsarbeit, Straßenzeitungsverkauf oder auch Betteleien durchs Leben.
Auch wenn der ein oder andere eine fixe Arbeit hat und Einkommen vorliegt –
eine Mietwohnung bleibt chancenlos. Vermieter geben lieber einem
Besserverdiener die Wohnung, zudem befürchten Vermieter, dass Mietzahlungen
bald ausfallen könnten, dass die Mieter keinen schonenden Umgang mit der
Mietwohnung pflegen – beides kann auch zutreffen.
Einige ArmutsmigrantInnen
bekommen Arbeit in Subfirmen im Niedrigstlohnbereich
(z. Z. Dez. 24 netto 1.200 €). Bei geringem Lohn ist eine Unterkunft nicht
finanzierbar. Die Leute haben keinen Anspruch auf Mietzinsbeihilfe, auch keinen
Anspruch auf Mindestsicherung, keine e-card, oder sonstige Zuschüsse. Sie
bleiben also in Notunterkünften oder prekären. kündigungsbedrohten
Hinterzimmern.
Zu den benannten prekären Lebensverhältnissen kommen noch
katastrophale, gesundheitliche Probleme. Mangelernährungen, ungesunde
Ernährungstraditionen und mangelnde Hygiene verstärken
Krankheits-anfälligkeiten. Sie leben ohne ärztliche Betreuung, versuchen
schwerkrank zu überleben.
Herbergen – ein möglicher Ausweg?
Um der Misere zu entkommen, wurde mit den Roma und der VG Waldhüttl das Modell der „Herberge“ entwickelt: eine
überschaubare Gruppe (10 – 30 Personen) lebt in größtmöglicher Selbstverwaltung
und Selbstverantwortung. Die BewohnerInnen können dort auch als Paare, auch mit
Kindern wohnen, können auch untertags und mittelfristig (ca. ein Jahr und mehr)
bleiben. In der Herberge gibt es ein Gemeinschaftsleben.
Bei der verpflichtenden Hausversammlung werden Freuden und
Probleme besprochen, nach Lösungen wird gemeinsam gesucht, zur Beratung werden
die BewohnerInnen an Sozialeinrichtungen verwiesen. Wichtig ist auch die Pflege
von Konversation in deutscher Sprache. In gewissen Bereichen werden Fortbildungen
gepflegt, es werden auch Feste gefeiert. Denn: „Wo viel geweint wird, muss umso
mehr getanzt werden“.
Herbergsmodell und Grenzen
Das größtmöglich selbstverwaltete Modell hat Grenzen.
Alkoholkranke oder aggressive Personen können nicht aufgenommen werden. In den
erwähnten Herbergen stehen den BewohnerInnen keine Sozialarbeiter, keine
Hausmeister, auch keine Securities zur Seite. Für die Gesellschaft ist es eine
„Billigvariante“, allerdings effizient, solange ehrenamtliche, durchwegs auch
professionelle MitarbeiterInnen zur Seite stehen. Dafür bräuchte es
letztendlich auch bezahltes Begleitpersonal, den Bedürfnissen der BewohnerInnen
entsprechend. Es wird Zielgruppen geben, die kaum Personal brauchen, andere
etwas mehr.
Traditionsbelastete Stolpersteine
Viele Rom/njas wollen z. B. für das Wohnen, vielleicht historisch
bedingt, nichts zahlen. Über Generationen lebten viele Großfamilien in
Wohnwägen, waren unterwegs, um in wirtschaftlichen Randbereichen Geld zu
verdienen. Spezielle Tätigkeiten bestanden bei einigen im Pferdehandel, im
Kesselflicken, in Tischlerei, auch im Alteisenhandel u.a.m. Man war viel
unterwegs, da brauchte man keine Wohnung, da bezahlte man keine Miete.
Einige Clans siedelten sich auch in Randgebieten an z B. neben Wildbächen, in Randvierteln, in
aufgelassenen Gehöften, oft in sog. illegalen Siedlungen. Auch dort musste man
keine Miete zahlen. Man blieb dort, bis man vertrieben wurde.
In Ermangelung einer Wohnung wird ein Auto, oft auch ein
repariertes Auslaufmodell, zum Wohnungs-ersatz. Ein Auto wird zum Lebensraum.
Es ist Schlafzimmer, Wohnzimmer, Kleiderkasten, Küche, Aufbewahrungsort für
Erworbenes und vieles andere mehr.
Gelegenheitsarbeiten haben ihre Logik: man möchte das Geld
nach getaner Arbeit. Angemeldetes Arbeiten mit Versicherungsbeträgen u. a. m.
wird von vielen schwer akzeptiert.
Wenn die Familie ruft, wenn jemand krank ist, dann muss man
zur Familie – egal ob Krankheit, ein Todesfall oder Notfall, aber auch dann,
wenn ein Kind auf die Welt kommt, wenn es Hochzeiten sind, religiöse Feste oder
wenn es irgendetwas zu feiern gibt. Gern fahren dann die Roma heim und bleiben
lang daheim, manchmal Monate. Das ist schwer vereinbar mit den Gepflogenheiten
des Arbeitsmarktes. Als eigentliche Pendler sind sie im Arbeitsmarkt schwer vermittelbar.
Viele Leute konnten keine Schule besuchen, können also
nicht lesen und schreiben, weder in der Muttersprache, am allerwenigsten in
Deutsch. Dokumente, Strafverfügungen, Hinweise, auch Nummern von Bussen oder
Straßenbahnen bleiben Hieroglyphen. Auch beim einfachsten Hilfsarbeiterjob, auf
dem Bau oder in einer Putzfirma werden minimale Schreib- und Lesekenntnisse
gefordert.
Es gibt Stolpersteine, es gibt Unvereinbarkeiten,
Themenbereiche, die ein Leben im Ankunftsland, in Österreich erschweren.
Eine Herberge – für einige eine Chance
Eine Herberge mit Anspruch auf Gemeinschaftsleben kann den
Weg erleichtern, kann Perspektiven eröffnen – wenn die BewohnerInnen wollen.
Nach Zeiten der Überbrückung – vielleicht möchte jemand seine Lebensgrundlage
verbessern, vielleicht gibt es einen Arbeitsplatz, selten oder nie eine Mietwohnung
am privaten Immobilienmarkt, vielleicht einmal in einer Gemeindewohnung. Nach
geschafften Schritten könnte ein verständlicher Wunsch entstehen.: Nachzug.
Überbelegungen einer Wohnung bringen dann oft soziale Konflikte und haben die
Kündigung zur Konsequenz
Der lange Weg ist nie zu Ende.
Der Weg der ArmutsmigrantInnen
ist besonders beschwerlich, mit Stolpersteinen und Hindernissen aus-gestattet.
Eines ist aber sicher: wenn es gelingt, dass die Leute ein bisschen weniger
Probleme haben, ist schon einiges erreicht. Die Frage lautet: wollen wir alle
Probleme lösen, das Paradies auf Erden – oder ein bisschen weniger Probleme“.
Ich optiere für das zweitere: ein bisschen weniger Probleme.
Dr. Josef (Jussuf) Windischer, geboren am 12. 8. 1947 in Innsbruck,
Studium der katholischen Theologie. Religionslehrer, Leiter mehrerer
Sozialprojekte in Tirol, Entwicklungshilfeeinsätze in Zimbabwe und Brasilien,
Gefängnis- und Ausländerseelsorger in Tirol, Generalsekretär von Pax Christi
Österreich (2011 – 16), seit 2012 Obmann der Vinzenzgemeinschaft in Tirol sowie
Gründer und Leiter des Vinziprojekts „Waldhüttl“ (http://www.waldhuettl.at). Jussuf Windischer
ist auch AKC-Vorstandsmitglied.
BUCHTIPP
„GEMEINSINN. Der sechste, soziale Sinn“; von Aleida Assmann
und Jab Assman, Beck-Verlag.
München 2024. 262 Seiten, € 25,00
München 2024. 262 Seiten, € 25,00
Ich stelle mir folgendes Bild vor: Aus allen möglichen
Regionen unserer Welt münden Straßen und Wege, auch manche verschlungenen
Pfade, zu einem großen Platz. Die Menschen, die auf diesen Wegen diese große
„Piazza“ ansteuern, haben unterschiedlichste Gedanken, Einstellungen, Utopien,
basierend auf verschiedenen Weltanschauungen und Religionen, in ihrem Gepäck.
Auf dieser Piazza angekommen, wird ausgepackt und ausgetauscht. Einige der
wichtigsten Leitfragen sind: Was hast du dabei, was zur Förderung des Wohls
aller beiträgt? Wie ist dein Menschenbild? Ist es von Respekt getragen? Wie ist
deine Haltung zur Natur? Wer sind deine Vorbilder? Hat der Mensch Rechte?
Pflichten? Oder Beides? Wer sind deine Feinde? Wer sind deine Freunde? Wie
stehst du zum Staat? Usw. Es geht also um Fähigkeiten, die dem einzelnen
Menschen zugesprochen werden, die jedoch in seinem individuellen
welt-anschaulichen Haus eingebettet bzw. von diesem ableitbar sind.
Am Anfang entsteht ein heilloses Durcheinander. Aber dann
besinnt sich jeder, nimmt sich zurück und erinnert sich an den Auftrag: Wir
sind hier her gekommen, um herauszufinden, wo wir Gemeinsamkeiten haben, obwohl
wir verschieden sind, was uns mit anderen verbindet (Gemeinschaft) und was uns
mit ihnen zusammenführt und zusammenhält (Gesellschaft) und wo wir zwar
verschieden sind, aber bei gegenseitigem Respekt doch Teil eine größeren
Ganzen sein können. Am Ende dieses Prozesses steht der Gemeinsinn und die
Piazza erhält den symbolischen Namen „Piazza del senso
commune“.
Diese Piazza ist für mich ein Leitbild für ein
Forschungsprojekt an der Universität Konstanz von 2020 bis 2023 mit dem Titel „Gemeinsinn.
Was ihn bedroht und was wir für ihn tun können.“ Die Ergebnisse dieses
spannenden Unternehmens sind nun in diesem Buch nach zu lesen.
Was verbindet uns? Was
führt uns zusammen und was hält uns zusammen?
Um beschreiben zu können, was uns verbindet, zusammenführt
und zusammenhält, braucht es
„alle verfügbaren Traditionen des sensus communis: die sinnliche wie die moralische, die
psychologische wie die soziologische, die rechtliche wie die politische. Als
Individuum ist der Mensch mit seinen fünf Sinnen in der Welt verankert und in
der Lage, sie in seiner Wahrnehmung, Aufmerksamkeit und seinem Urteil
zusammenzufassen (Gemeinsinn 1). Als Individuum ist er nicht nur sozial immer
schon in größere Einheiten eingebunden (Gemeinsinn 2), sondern steht auch in
einem Bezugsfeld, in dem er Rechte gegenüber dem Staat und Pflichten gegenüber
den Anderen hat (Gemeinsinn 3). Von diesen Traditionen ausgehend verstehen wir
unter `Gemeinsinn` einen sozialen Sinn, der zusammen mit den anderen fünf
Sinnen als sechster Sinn jeden Menschen angeboren ist. Ob sich dieser sechste
Sinn allerdings entwickeln kann oder ob er verkümmert, das hängt zum größten
Teil von der Kultur und ihren Werten ab, in die man hineingeboren wird.
Voraussetzungen und Potenziale dieses Begriffs sollen in diesem Buch
herausgearbeitet werden. Zu den Potenzialen gehört, dass dieser Begriff
grundsätzlich keine klaren Grenzen hat. Mehr noch, er hat die Kraft, die Logik
fester Zuschreibungen auszuhebeln. Als sozialer Sinn bezieht er sich deshalb
nicht nur auf eine klar umrissene Gemeinschaft, sondern auf den oder die
Anderen. Das kann sich auf den engsten Kreis der Familie oder den weitesten
Kreis der Menschheit bzw. alles Lebendigen beziehen, je nachdem, mit wem wir
empfinden, feststellen oder beschließen, etwas ´gemein´– communis
– zu haben.“ (S 31)
Spuren dafür und dagegen
Die darauf folgende historische Spurensuche nach
Traditionen des Gemeinsinns ist beeindruckend und zeigt die vielen Wege auf,
die zur oben erwähnten Piazza führen, aber auch Abwege, wie z. B. die
Staatstheorie des Katholiken Carl Schmitt (1888 – 1985), der, auf den Spuren
von Thomas Hobbes („homo homini lupus“), von der
wölfischen Natur des Menschen ausgeht, die nur mit einem autoritären, in
Schmitts Augen, von einem nationalsozialistischen, Staat gezähmt werden kann.
Entlang der Begriffspaare „Gewalt – Chaos“, „liberal – illiberal“
„überzeitliche Natur – oberflächliche Kultur“ gibt es nur Freunde und Feinde in
einem Staat, in dem jeder Rechtsbruch schon Hochverrat ist und jedes Einzeldelikt
eine grobe Verletzung der Gemeinschaft. Die Menschheit gibt es für ihn nicht,
weil sie keinen Feind hat. Schmitt, auch ein enger Freund Ernst Jüngers, legte
seine Ansichten, zu der auch sein Antisemitismus gehörte, auch nach dem Holocaust
nicht ab. Er bekommt in diesem Buch zu Recht einen breiteren Raum, weil er auch
im Nachkriegsdeutschland sein Publikum hatte. (Waren in seinen Büchern die
Eliten die Feinde, ist es heute das System, so wird es zumindest den
Globalisierungsverlierern in den Mund gelegt.) Er durfte nach dem Zweiten
Weltkrieg nicht lehren, veröffentlichte aber weiterhin Bücher und empfing seine
getreuen Multiplikatoren in seinem deutschen Domizil.
Ein weiterer Irrweg ist der Populismus. Er wird durch eine
Parallele zwischen dem Wiener Bürgermeister Karl Lueger um 1900 und dem
„Vergifter“ Arthur J. Finkelstein um 2000
veranschaulicht. Im Unterschied zu Lueger konnte Finkelstein unter Zuhilfenahme
der Massenmedien alle Register ziehen. Er hat den sattsam bekannten Slogan „Make America great
again“ zwar für Reagan entworfen, Trump hingegen hat
ihn erfolgreich wiederbelebt. Finkelsteins „negative campaigning“
hat Netanjahu 1996 zu seinem ersten Wahlsieg gegen Schimon Peres verholfen.
Auch der antieuropäische Kurs Viktor Orbans geht auf seine
Beraterunterstützung zurück. Was ermöglicht Gemeinsinn unter anderem? Respekt
vor dem anderen und Verpflichtung zur Wahrheit. Populismus zerstört beides.
Das radikale Gegenprogram: Die Bergpredigt
Ein herausfordernder Beitrag zum Gemeinsinn führt uns über
die Aufklärung hinaus 2000 Jahre zurück – zur Bibel. Sie ist die Quelle des
praktischen Universalismus in Form der jüdisch-christlichen, Grenzen
überwindenden, Nächstenliebe und bekommt im Kapitel „Beziehungsgrammatiken“
ihren Platz. Als Hauptquellen werden Levitikus 19 aus dem Alten Testament und
Matthäus 5 (Bergpredigt) aus dem Neuen Testament angeführt. Jesus fragt: „Denn
wenn ihr liebt, die euch lieben, welchen Lohn habt ihr“ Unsere menschlichen
Beziehungen werden radikal neu definiert, um nicht zu sagen, auf den Kopf
gestellt. Es ist nicht mehr üblich, seinen Feind zu hassen – im Gegenteil, es
ist üblich, seinen Feind zu lieben. Dieser radikale Universalismus, der für
jeden Christen identitätsstiftend ist und sein spezifischer Weg zu oben
zitierten Piazza ist, ist heute gefragter und bedrohter denn je. Man denke nur
an die zunehmenden Attacken an den Menschenrechten.
Herr und Frau Assmann
gehen jedoch noch einen Schritt weiter:
„Sind wir schon als Menschen und nicht erst als Juden,
Deutsche, Frauen, Christen usw. füreinander verantwortlich? Mit Sicherheit
braucht die Ausweitung der Mitmenschlichkeit einen universalen Rahmen… Nichts
führt gegenwärtig der Menschheit ihre gemeinsame Zugehörigkeit unabweisbarer
vor Augen als die gemeinsame Betroffenheit durch die Klimakatastrophe. Dafür
müssen die Menschen lernen, den Gemeinsinn über nationale, kulturelle und
religiöse Grenzen hinweg auszudehnen und sich als verantwortliches
Handlungssubjekt im Umgang mit den Mitmenschen und der Umwelt zu verstehen.
`Wer Menschheit sagt, will betrügen`, schrieb Carl Schmitt und dachte dabei an
das Prinzip der `Solidarisierung gegen`. Heute bedeutet die Einhaltung von
Feindbildern die Zerstörung von Zukunft auf dem Planeten, denn die gibt es nur
für alle oder für keinen.“ (S 126 f.)
Weitere Protagonisten des
Gemeinsinns
Von den vielen, bekannten und weniger bekannten,
Protagonisten des Gemeinsinns, die in diesem Buch noch zu Wort kommen, seien
erwähnt: Immanuel Kant (kategorischer Imperativ), der Heidegger-Schüler Karl
Löwith, der sich mit seiner dialogischen Hermeneutik des Miteinanderseins
von seinem Lehrmeister deutlich abgegrenzt hat, Christian Thomasius, der
deutsche Erfinder des Gemeinsinns und die dritte Farbe der Trikolore, die
Brüderlichkeit. Erwähnenswert ist auch, dass mit der Brille des Gemeinsinns auch der Prozess der deutschen
Wiedervereinigung beleuchtet wird („Zu einer innenpolitischen Schieflage“).
Nach dem Kapitel „Grundsätze demokratischer politischer Kultur“, in dem
auch der Respekt ausführlich erläutert wird sowie die Menschenrechte und
Menschenpflichten, werden im siebenten und letzten Kapitel „Heldinnen und
Helden des Gemeinsinns“ vorgestellt, was nochmals für den enormen
praktischen Wert dieses Buches spricht.
Ich schließe mit Dieter Conrad, der aus seinem Buch
über Ghandi auf Seite 73 wie folgt zitiert wird:
„Das wahre Problem scheint nicht zu sein, ob einige wenige
Heilige (gemeint ist: vom Typ Gandhi) der Welt ein Idealgesetz aufzwingen
wollen, sondern ob einige Wolfsnaturen genügen, um allen das Wolfs-gesetz
aufzuerlegen.“
Hans
Döller