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aus:
DER PUTSCH IN CHILE VOR 50 JAHREN
Von Adalbert Krims
Der 11. September 1973 gehört zu jenen Tagen in meinem
Leben, die sich am tiefsten in meinem Bewusstsein verankert haben. An diesem
Tag ist eine große politische Hoffnung zerstört worden – nicht nur für Chile
selbst, sondern für Lateinamerika, ja die ganze Welt. Chile galt damals international
als Vorzeigebeispiel für den „friedlichen Weg zum Sozialismus“, also eine grundlegende
(„revolutionäre“) Änderung der Gesellschaftsform ohne Anwendung von Gewalt.
Und es war auch ein Vorzeigebeispiel für die Zusammenarbeit von Marxisten und
Christen. Nicht zufällig ist im April 1972 in Santiago de Chile die
lateinamerikanische Bewegung „Christen für den Sozialismus“ gegründet worden,
die dann 1973 auch in mehreren europäischen Ländern Fuß gefasst hat. Der 11.
September 1973 hatte für mich aber auch eine persönliche Dimension: mehrere
FreundInnen waren damals in Santiago tätig – und ich wusste tagelang nichts
über ihr Schicksal… Es ist ihnen zum Glück nichts passiert, aber sie konnten
ihre Arbeit in Chile, die sie ja als Unterstützung des „chilenischen Modells“
verstanden, nicht fortsetzen und kehrten im Laufe der nächsten Wochen nach
Österreich zurück. Sie waren dann hier wichtige Motoren der breiten, Parteien
und Ideologien übergreifenden Solidaritätsbewegung für Chile.
„Besonderheiten“ Chiles
Im Vergleich zu anderen lateinamerikanischen Ländern war
Chile wirtschaftlich höher entwickelt und es hatte ein relativ stabiles
bürgerlich-demokratisches System – inkl. einer starken Gewerkschaftsbewegung
und linken Parteien. Während in vielen lateinamerikanischen Ländern Wahlen
meist nur einen Wechsel zwischen der Konservativen Partei (dominiert von den
traditionellen Großgrundbesitzern) und der Liberalen Partei (dominiert vom
„modernen“ Kapital) bedeuteten, gab es in Chile bereits zwischen 1938 und 1952
eine Volksfrontregierung aus linksliberalen Radikalen, Sozialisten und Kommunisten,
die auch von der kleinen katholischen Falange unterstützt wurde. Aus der
Falange heraus entstand 1957 die Christdemokratische Partei (PDC), die sich
innerhalb weniger Jahre zur größten Partei des Landes entwickelte und die von
1964 bis 1970 mit Eduardo Frei den Staatspräsidenten stellte. Die PDC verstand
sich als Reformpartei auf Grundlage der katholischen Soziallehre, die einen
„Dritten Weg“ jenseits von Kapitalismus und Sozialismus gehen wollte und mit
dem Slogan „Revolution in Freiheit“ operierte. Die PDC genoss auch die Unterstützung
breiter Kreise der katholischen Kirche – inkl. von Bischöfen. Unter der Regierung
Frei erwarb der chilenische Staat die Mehrheit der Kupfergesellschaften und es
wurde auch mit einer Agrarreform begonnen.
Innerhalb der Christdemokraten gab es aber auch Kritik am
zu geringen Reformtempo sowie an der US-freundlichen Haltung von Präsident
Frei. Ein Teil des linken Flügels der PDC spaltete sich deshalb 1969 ab und
gründete die MAPU (Bewegung für vereinigte Volksaktion), die sich 1970 dem
linken Parteienbündnis Unidad Popular anschloss, das bei der
Präsidentschaftswahl am 4. September den Sozialisten Salvador Allende als gemeinsamen
Kandidaten aufstellte. Um dem Verlust an die Linke entgegenzuwirken, stellte
die PDC ihrerseits einen Kandidaten ihres linken Flügels auf: Radomiro Tomic.
Für die weit rechts stehende Nationalpartei trat Jorge Alessandri an, der
bereits von 1958 bis 1964 Präsident gewesen war. Das Ergebnis war durchaus
knapp: Allende 36,6 %, Alessandri 34,9 % und Tomic 27,8 Prozent. Nachdem
keiner der Kandidaten die absolute Mehrheit erhielt, musste es nach der
chilenischen Verfassung zu einer Stichwahl der beiden Erstgereihten durch das
Parlament kommen, wobei die Christdemokraten schon zuvor erklärten, den
stimmenstärksten Kandidaten zu unterstützen.
Wie inzwischen aus Dokumenten bekannt ist, versuchten die
USA, die Wahl Allendes zu verhindern, indem sie einerseits Druck auf die Christdemokraten
ausübten, andererseits aber auch ihre militärischen und geheimdienstlichen Kontakte
einsetzten. So gab es Mitte September 1970 in Washington Treffen sowohl von
CIA-Chef Richard Helms als auch von Präsident Richard Nixon mit Augustin Edwards,
dem Besitzer der rechten chilenischen Mediengruppe „El Mercúrio“, bei denen es
um einen Geheimplan zur Verhinderung der Wahl Allendes durch eine Machtübernahme
der Armee und die Auflösung des Parlaments ging. Der Oberbefehlshaber der
Streitkräfte, General René Schneider, der den Christdemokraten nahestand und
jegliches Eingreifen des Militärs in die Politik ablehnte, wurde zwei Tage vor
der Wahl im Parlament in einer von den USA unterstützten Geheimdienstoperation
entführt und angeschossen. Er verstarb einen Tag nach der Wahl. Die Christdemokraten
hielten jedenfalls ihr Versprechen und stimmten schließlich bei nur wenigen
Enthaltungen für den Sozialisten Allende.
Die Jahre der Unidad Popular
Chile ist zwar eine Präsidialrepublik, in der der
Staatspräsident große Entscheidungsvollmachten hat, dennoch ist er bei der Gesetzgebung
von der Parlamentsmehrheit abhängig. Allende war somit auch auf Stimmen aus
der Opposition angewiesen. Bei einigen Vorhaben stimmten die Christdemokraten
zu – bei der Verstaatlichung des Kupferbergbaus sogar alle Parlamentsparteien.
Im Jahr 1971 erreichte die Unidad Popular bei den Kommunalwahlen
knapp 50 Prozent der Stimmen, was auch Ausdruck der Popularität der Regierung
war. Gleichzeitig formierten sich aber die Gegner – innerhalb und außerhalb des
Landes. Im Parlament gingen die Christdemokraten stärker auf Oppositionskurs,
was im Oktober 1971 zu einer weiteren Linksabspaltung (Izquierda Cristiana –
Christliche Linke) führte. Die neue Partei, der auch mehrere
christdemokratische Abgeordnete angehörten, trat in die Regierung ein, was aber
trotzdem für eine Mehrheit im Parlament nicht ausreichte. Im Oktober 1972 legte
ein fast einmonatiger Streik der Lastwagenbesitzer Chile lahm, der von der CIA
finanziell unterstützt wurde und dem sich auch andere Berufsgruppen und die Opposition
anschlossen. Der Boykott der USA verschärfte noch zusätzlich die
wirtschaftlichen Probleme des Landes.
Aber auch im Regierungslager taten sich Widersprüche
bezüglich der weiteren Strategie auf. Während ein Teil der Unidad Popular
(allen voran die Kommunistische Partei und ein Teil der Sozialistischen Partei)
einen Kompromiss mit den Christdemokraten finden wollte, um die Reformen politisch
abzusichern, drängte ein anderer Teil auf die Mobilisierung der Massen, um die
Straßen nicht der Opposition zu überlassen. Die außerhalb der Unidad Popular
stehende „Bewegung der Revolutionären Linken“ (MIR) verlangte sogar die Bewaffnung
von Volksmilizen, um den revolutionären Prozess gegen die Reaktion zu
verteidigen. Diese strategischen Differenzen auf der Linken waren für Allende
eine zusätzliche Belastung, wobei er sich dafür verbürgte, dass die Regierung
niemals den Weg der Verfassung verlassen oder gar Gewalt anwenden würde.
Trotz der schwierigen wirtschaftlichen und politischen Lage
hielt sich die Unidad Popular bei den Parlamentswahlen am 4. März 1973 recht
gut, vor allem die Sozialisten gewannen stark dazu. Die Christdemokraten
verloren zwar, blieben aber stärkste Einzelpartei. Und da die Opposition gemeinsam
kandidierte, kam sie zusammen auf 55 Prozent, während die Unidad Popular ihr
Ergebnis von 1969 (44 Prozent) halten konnte, aber deutlich unter der
absoluten Mehrheit blieb. Da die Mehrheitsverhältnisse im Parlament also im
wesentlichen gleich blieben und die Christdemokraten eine Unterstützung der
Regierung ablehnten, gab es praktisch eine Pattsituation: der Opposition fehlte
die notwendige Zweidrittelmehrheit, um den Präsidenten auf legale Weise
abzusetzen – andererseits fehlte der Regierung die absolute Mehrheit, um
alleine Gesetze beschließen zu können.
In dieser Situation bemühte sich u. a. der Erzbischof von
Santiago, Kardinal Raúl Silva Henriquez, die Christdemokraten zum Eintritt in
die Regierung zu bewegen. Allerdings hatte deren Führung damals schon andere
Pläne. Sie dachte, dass ein Sturz der Regierung durch das Militär und Neuwahlen
nach einer Übergangszeit sie wieder zurück an die Macht bringen würde. In den
USA bemühte sich Sicherheitsberater (ab 28. 8. 73 Außenminister) Henry
Kissinger persönlich um Kontakte zu chilenischen Generälen. Nach einem
gescheiterten Putschversuch eines Obersts am 29. Juni 1973 zeigte sich die Heeresführung
noch loyal zu Allende, der im August die Chefs der vier Waffengattungen ins
Kabinett berief und den Oberkommandierenden, General Carlos Prats, zum Verteidigungsminister
machte. Allerdings traten sie nach einem Misstrauensvotum des Parlaments Ende
August zurück, wobei General Augusto Pinochet an die Stelle von General Prats
als Chef des Heeres aufrückte.
Putsch und Militärdiktatur
Schließlich kam es am 11. September zum Militärputsch und
die Oberkommandierenden aller Waffengattungen ernannten sich zur Regierungsjunta
unter Vorsitz von General Pinochet, der bis zum letzten Moment nach außen hin
loyal zu Allende stand. Während in Santiago der Präsidentenpalast zuerst
bombardiert und dann besetzt wurde, liefen im ganzen Land Massenverhaftungen
von Anhängern der Unidad Popular. Unmittelbar nach dem Putsch gab es die
meisten Opfer, sowohl von Folterungen wie von politischen Morden. Allein am 11.
September wurden 2.131 Menschen aus politischen Gründen verhaftet, bis Ende
des Jahres waren es 13.364. 43 % der Opfer wurden von Carabineros (Polizisten)
verhaftet und weitere 30 % von Soldaten des Heeres (der Rest meist von Angehörigen
von Luftwaffe und Marine oder Geheimdiensten). Opfer waren vor allem Mitglieder
und Sympathisanten von Regierung, Linksparteien und Gewerkschaften. Öffentliche
Gebäude wie Stadien, Konferenzhallen und Schulen wurden zu Lagern umgerüstet.
Der bekannteste Fall ist das Nationalstadion, in dem alleine mehr als 40.000
Gefangene zusammengetrieben worden sind. Viele von ihnen wurden gefoltert und
getötet. Insgesamt wurden vermutlich etwa 3197 (gesicherte Anzahl der Opfer)
bis 4000 Menschen während der Diktatur ermordet, der Großteil davon in den
Wochen nach dem Putsch. Etliche Menschen verschwanden spurlos und auf bis heute
ungeklärte Weise. Etwa 20.000 Menschen flohen noch 1973 ins Ausland.
Detail am Rand: Unmittelbar nach dem Militärputsch
gratulierten sich US-Präsident Richard Nixon und sein inzwischen zum Außenminister
aufgestiegene ehemalige Sicherheitsberater Henry Kissinger gegenseitig. „Zu
Eisenhowers Zeiten wären wir wie Helden behandelt worden“, merkte Kissinger
damals an. Obwohl die Involvierung der US-Regierung und der CIA in Vorbereitung
und Durchführung des Militärputschs längst durch Dokumente belegt ist, gibt es
immer noch Aufklärungsbedarf. Deshalb hat der chilenische Botschafter in den
USA und ehemalige christdemokratische Außenminister (1999 - 2000), Juan
Gabriel Valdés, anlässlich des 50. Jahrestages des Putschs US-Präsident Joe
Biden formell aufgefordert, alle Unterlagen aus den Jahren 1973 und 1974
freizugeben, die sich auf die Haltung des damaligen US-Präsidenten zu Vorbereitung
und Durchführung des Putschs sowie zur Militärjunta beziehen. „Es gibt
Details, die uns interessieren. Sie sind wichtig, um unsere eigene Geschichte
zu rekonstruieren“, sagte Valdés.
Chile galt bis 1973 in Lateinamerika als
„Musterdemokratie“. Mit dem Putsch kippte es in das Gegenteil: Chile wurde zur
„Musterdiktatur“. Zwar gab es in Lateinamerika schon vorher Militärdiktaturen
(wie in Argentinien, Brasilien oder Uruguay), doch keine erreichte eine solche
„Perfektion“ in der Verbindung von faschistischer und neoliberaler
Konterrevolution, die dann 1980 noch durch die neue Verfassung
institutionalisiert und abgesichert wurde. Während die erste Phase der
Pinochet-Diktatur vor allem durch ihre Grausamkeit bekannt war, wurde sie
später zum Laboratorium für die Konzepte der sog. „Chicago-Boys“, also
jener jungen radikalen Ökonomen, die an der University of Chicago studiert
hatten und die monetaristischen Theorien ihrer Gurus Milton Friedman und
Friedrich August von Hayek ab 1975 in Chile ausprobieren durften. Sie stellten
die Wirtschafts- und Finanzminister sowie den Chef der Zentralbank. Sie
unterzogen Chile einer „Schocktherapie“ im Sinne einer neoliberalen Wirtschaftsdoktrin.
Ohne demokratische Kontrolle und ohne Rücksicht auf Fragen der Menschenrechte
oder der Versorgungslage der Bevölkerung machten sie Chile zu einem Experimentierfeld
für weitgehende Deregulierungs- und Privatisierungskonzepte.
Auch nach dem Ende der Pinochet-Diktatur und der Wiedereinführung
der Demokratie blieben die Strukturen des Neoliberalismus erhalten. Insofern
war der Putsch vom 11. September 1973 nicht nur ein blutiger Machtwechsel, der
nach dem Ende der Diktatur wieder rückgängig gemacht werden kann, sondern er
hat Chile nachhaltig verändert. Auch die letzten Jahrzehnte demokratischer
Entwicklung haben den Bruch mit dem Pinochet-Erbe (noch) nicht geschafft, wie
das jahrelange Ringen um eine neue Verfassung bestätigt. Das klare „Nein“ beim
Verfassungsreferendum im September 2022 war zudem ein schwerer Rückschlag im
Kampf um ein demokratisches, sozial gerechtes und ökologisches Chile!
Christen und Kirche
Der Wahlsieg Allendes 1970 wäre nicht möglich gewesen, wenn
es in den Jahren zuvor nicht zu entscheidenden Veränderungen im „christlichen
Lager“ gekommen wäre. Damit sind nicht nur linke Tendenzen bis hin zu
Abspaltungen in der Christdemokratie gemeint, sondern vor allem die Prozesse
in der katholischen Kirche nach der Lateinamerikanischen Bischofskonferenz in
Medellín 1968 (Stichworte: „Option für die Armen“, „Theologie der Befreiung“).
In Santiago besetzten im August 1968 200 junge Menschen und Priester die
Kathedrale und forderten eine klare Hinwendung der Kirche zu den Armen. Die
Gruppe nannte sich „Junge Kirche“.
Ein halbes Jahr nach dem Wahlsieg Allendes versammelten
sich im April 1971 in Santiago 80 Priester und veröffentlichten eine Erklärung,
in der sie sich zur Überwindung der Klassengesellschaft und zum Sozialismus
bekennen. Auch der peruanische Befreiungstheologe Gustavo Gutiérrez war dabei.
Auch der österreichische Priester und Mitbegründer der AKC, Herbert Berger, der
damals in Chile war, nahm an dem Treffen der „Gruppe der 80“ teil. Die
Erklärung wurde aber von der chilenischen Bischofskonferenz zurückgewiesen,
doch die Professoren der Katholischen Universität von Santiago
solidarisierten sich mit ihr. Ein Jahr später, im April 1972, fand in Santiago
der 1. Lateinamerikanische Kongress der Christen für den Sozialismus statt.
Rund 400 Vertreter aus ganz Lateinamerika sowie Beobachter aus den USA und
Europa berieten eine Woche lang über die soziale und politische Lage in Lateinamerika
und die Herausforderung an die Christen. Der mexikanische Bischof Sergio Méndez
Arceo von Guernavaca erklärte: „Für unsere unterentwickelte Welt gibt es keine
andere Lösung als den Sozialismus.“ Im Schlussdokument hieß es wörtlich: „Der
Sozialismus ist die einzige annehmbare Alternative zur Überwindung der
Klassengesellschaft“.
Die „Christen für den Sozialismus“ stießen aber bei der
Bischofskonferenz auf Ablehnung und es gab Repressionen vor allem gegen
Priester, die sich zu ihnen bekannten. Im April 1973 beschloss die chilenische
Bischofskonferenz ein internes Dokument, in dem die „Christen für den Sozialismus“
ausdrücklich verurteilt wurden. Dieses Dokument wurde aber erst wenige Wochen
nach dem Putsch öffentlich bekannt. Dazu schrieb Herbert Berger: „Die
sicherlich nicht beabsichtigte Folge war, dass die Schergen Pinochets alle Mitglieder
dieser Bewegung als Freiwild betrachteten. Drei Priester wurden in den ersten
Monaten ermordet, andere später, über hundert mussten das Land verlassen (darunter
auch Herbert Berger – Anm.), unzählige Christinnen und Christen wurden
gefoltert, in Konzentrationslager gebracht oder ermordet.“
Der Putsch selbst wurde von der Bischofskonferenz nicht
verurteilt. Erst zwei Tage danach äußerte sie ihr Bedauern über die Toten, ohne
aber die Täter klar zu benennen. Offenbar waren sich die Bischöfe damals nicht
einig: einige befürworteten das Einschreiten des Militärs, die Mehrheit dachte
wohl, dass sich die Militärs nach einigen Monaten wieder in die Kasernen zurückziehen
und es zur Rückkehr zur Demokratie kommen würde. Erst nach einigen Wochen, als
das ganze Ausmaß der Ermordungen, Verschleppungen und Folterungen deutlich
wurde, engagierte sich auch die „offizielle“ Kirche für die Opfer. Anfang
Oktober 1973 wurde in Santiago mit ausdrücklicher Unterstützung von Kardinal
Raúl Silva Henriquez unter dem Vorsitz des katholischen Weihbischofs Fernando
Ariztia und des evangelisch-lutherischen Bischofs Helmut Frenz das „Komitee für
Zusammenarbeit für den Frieden in Chile“ gegründet. Dieses Komitee engagierte
sich bei der Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen, aber auch bei der
medizinischen Versorgung und sozialen Hilfe für Opfer der Repression. Bald
wurde aber auch das „Komitee für den Frieden“ selbst zum Ziel der Repression:
Dem Ko-Vorsitzenden, Bischof Frenz (deutscher Staatsbürger), wurde im Oktober
1975 die Wiedereinreise nach Chile verboten, der Leiter der Rechtsabteilung
und mehrere mitarbeitende Priester wurden inhaftiert. Am 11. November 1975
schrieb General Pinochet einen Brief an Kardinal Silva, in dem er ihn
aufforderte das „Komitee für den Frieden“ aufzulösen, weil dieses „ein von
Marxisten-Leninisten eingesetztes Mittel ist, um Probleme zu schaffen, die
die Ruhe der Bürger beeinträchtigen“. Der Kardinal kam zwar der Aufforderung
nach, gründete aber gleichzeitig innerhalb der Erzdiözese das „Vikariat der
Solidarität“, das eine unmittelbare Einrichtung der katholischen Kirche war und
de facto die Aufgaben des Komitees weiterführte. Außerdem gab das Vikariat alle
zwei Wochen die Zeitschrift „Solidaridad“ heraus, die die staatliche Zensur
durchbrach und neben internationalen und nationalen Nachrichten auch Listen von
verschwundenen Personen veröffentlichte.
Insgesamt war also das Verhältnis der katholischen Kirche
zum Pinochet-Regime ambivalent. Die Christen, die Widerstand leisteten, konnten
nur zum Teil Verständnis oder gar Schutz von der Kirchenleitung finden. Aber
immerhin kümmerte sie sich – vor allem in der Erzdiözese Santiago – um die
Opfer der Repression und dokumentierte auch die Verbrechen der Junta.
Schlussbemerkung
Inzwischen ist Chile längst zur lateinamerikanischen
„Normalität“ zurückgekehrt. Es wird wieder demokratisch gewählt. Präsidenten
und Parlamentsmehrheit wechseln zwischen rechts und links. Wirtschaftlich
steht Chile sogar besser da als die meisten anderen lateinamerikanischen
Länder – dennoch gehört es zu den Ländern mit der größten Ungleichheit. Und
die mehr als 2 Millionen Armen haben nichts davon, wenn das Durchschnittseinkommen
in Chile höher ist als in den Nachbarländern. Der Militärputsch ist nun 50
Jahre vorbei und die große Mehrheit der Chilenen kennt ihn nur aus Erzählungen
oder Büchern. Bei uns „im Westen“ ist der 11. September außerdem längst
überlagert durch die Terroranschläge vom 11. September 2001 in New York.
Vorbei sind aber auch die Hoffnungen, dass Chile einen anderen Weg geht als die
anderen Staaten Lateinamerikas. Der „friedliche Weg zum Sozialismus“ ist Geschichte.
Trotz seiner Probleme und Widersprüche ist er nicht „gescheitert“, sondern er
wurde zum Scheitern gebracht, weil er einfach nicht gelingen durfte. Und dies
geschah vor allem durch das indirekte und sogar direkte Eingreifen jenes
Imperiums, das bis heute von vielen als „Garant unserer Freiheit“ bezeichnet
wird. Für uns Zeitzeugen und Aktivisten der Chile-Solidarität bleibt der 11.
September 1973 ein bitterer Tag, an dem Hoffnungen zerstört wurden. Und es war
auch ein Tag, an dem Begriffe wie „Freiheit“, „westliche Werte“ etc., die heute
wieder in aller Munde sind, desillusioniert und dauerhaft entwertet.
OTTO MAUER – EIN
PFINGSTLICHER SEELSORGER UND MONSIGNORE
Erinnerungen an
seinem 50. Todestag
von Alfred
Kirchmayr
„Kunst wäscht
den Staub des Alltags von den Augen.“ (Pablo Picasso).
„Die kommende
Welt wird eine brüderliche, teilende und mitfühlende sein müssen, oder sie wird
sich selbst vernichten!“ (Otto Mauer 1959, angesichts des
Kalten Krieges).
Pfingsten ist
immer! Löscht den Geist nicht aus!
Am
Pfingstsonntag 1966 wanderte ich bei herrlichem Frühlingswetter von meinem
Studentenquartier am Roten Berg in die Innenstadt. Als ich in die Nähe der
Kirche „Am Platz“ in Hietzing kam, vernahm ich die geniale Kurzfassung einer
Theologie des Heiligen Geistes, gesprochen von der mir sehr vertrauten und
markanten Stimme des Dompredigers Msgr. Otto Mauer: „Pfingsten war gestern!
Pfingsten ist heute! Pfingsten ist immer!“
Doch Pfingsten
ist ein gefährliches Fest für Ideologen aller Couleurs. Pfingsten ist
Herausforderung aus allen fertigen Gottes- und Menschenbildern, Kirchen- und Gesellschaftsbildern.
Pfingsten ist der Geist christlicher Metanoia, ist Umkehr und Neubeginn, immer
wieder, immer wieder, immer wieder neu. Ich bin unendlich dankbar dafür, dass
ich Mauers sprühenden Geist von 1963 bis zu seinem Tod 1973 sehr oft genießen
durfte.
Am 14. Februar
1907 erblickte Otto Mauer als einziges Kind eines Bankbeamten in Brunn am
Gebirge in Niederösterreich das Licht und die Dunkelheit der Welt. Schon in
Kindertagen sammelte er Kunstdrucke. Als Sechzehnjähriger wurde er Mitglied des
Christlich-Deutschen Studentenbundes. Aus diesem bildete sich die
katholische Jugendbewegung „Bund Neuland“.
Gegründet wurde
diese kreative Organisation von zwei Priestern: vom Studentenseelsorger und Begründer
des Wiener Seelsorgeamtes Karl Rudolf, und von Michael Pfliegler, der später
den Lehrstuhl für Pastoraltheologie in Wien bekam und Ferdinand Klostermann zu
seinem Nachfolger nur knapp durchsetzen konnte. Pfliegler förderte die Zusammenarbeit
mit den religiösen Sozialisten und wurde deshalb von den herrschenden Stubenhockertheologen
energisch abgelehnt. Die Begeisterung für die katholische Jugendbewegung „Bund
Neuland“ und sein Engagement für eine echt christliche Kirche hat Mauers Leben
geprägt.
Ein begeisterter
„Neuländer“
Denn das
Engagement der „Neuländer“ galt einer geerdeten christlichen Spiritualität und
dem Einsatz für eine humane und aufgeklärte Gesellschaft. Aus dieser Bewegung
kamen viele kreative Persönlichkeiten wie Kardinal Franz König, Ferdinand
Klostermann und Max Weiler.
Gemeinsam mit
dem späteren Domprediger Karl Dorr, verbrachte Mauer das zweite Jahr seines
Theologiestudiums in Münster. Beide reisten durch Deutschland und lernten die
Jugendbewegung Quickborn kennen. Der Name ist Programm: Lebendiges Quellwasser
statt abgestanden-faules Wasser! Neben neuen Formen der Seelsorge und Liturgie
lernten sie auch Arbeiterpriester in Frankreich kennen. Nach der Priesterweihe
1931 war Mauer drei Jahre lang Kaplan und Religionslehrer in der
sozialistischen Gemeinde Schwechat. Vom ersten Gehalt als Kaplan kaufte er
einen Fußball für die Buben. Die Wende zum Austrofaschismus setzte ihm so zu,
dass er einen Nervenzusammenbruch erlitten hat.
Christliche
Mündigkeit statt Vermassung
Als
Religionsprofessor an der Lehrerbildungsanstalt in Strebersdorf hat er den
täglichen, klassenweisen Messbesuch ebenso abgeschafft wie das Verbot,
Konzerte und Theateraufführungen nach persönlicher Wahl zu besuchen. Der
reaktionäre Präsident des Stadtschulrates und Dollfuss-Verehrer Robert Krasser
war über Mauer wütend, weil er lehrte, dass das eigene Gewissen die letzte
moralische Entscheidungsinstanz sei. Er setzte ihn gegen alle Regelungen
einfach ab.
Vom September
1936 bis zum 31. 3. 1938 war Mauer Kaplan in Berndorf und Religionsprofessor am
Arthur-Krupp-Gymnasium. Einen Tag nach dem Einmarsch Hitlers in Österreich
wurde Mauer vom neuen Nazi-Bürgermeister in Berndorf vorgeladen. Da saßen drei
Männer im Gemeindeamt: der Bürgermeister, ein SS-Mann mit Stahlhelm und
Pistole und Otto Mauer. Der SS-Mann drohte Mauer, ihn zu erschießen, wenn er
das Gymnasium noch einmal betreten sollte!
Mit Bibel und
Zahnbürstel unterwegs
In den Jahren
1938 – 1945 war Mauer stets mit Bibel und Zahnbürstel unterwegs, weil er immer
wieder von der Gestapo verhört und verhaftet wurde. Mauer wohnte in der Pfarre
St. Josef in der Karmelitergasse im Zweiten Bezirk, wo er seine berühmten
Bibelabende abgehalten hatte. Diese wurden ein Zentrum des Widerstandes gegen
das NS-Regime. 1941 wurde Mauer vom Leiter des Seelsorgeamtes Karl Rudolf zum
Ordinationsrat ernannt. Er war für „Religion, Kultur und Akademikerseelsorge“
zuständig. Im Gestapoakt wurde er als der „intransigenteste Feind des
Regimes“ bezeichnet.
„Kommen Sie mit
oder soll ich mitkommen?“
Im Mai 1942
wollte ihn die Gestapo vor seiner Predigt in der Sakristei des Domes von Graz
abführen. Mauer gab den SS-Männern kühl zu bedenken, dass im Dom 4000 Menschen
Trost suchen, wo Söhne und Väter im Krieg kämpfen. Ein Kanoniker wird auf die
Kanzel steigen und sagen, dass der Prediger eben verhaftet wurde. Wollen Sie
das wirklich? Die SS-Männer waren verunsichert, ließen Mauer predigen und
verhörten ihn danach fünf Stunden lang. Das Protokoll musste Mauer selbst
schreiben, weil die schwarzen Männer dazu nicht fähig waren. Das erinnert an
den Kabarettisten Werner Fink in Berlin, der eben in dieser Zeit oft von
der Gestapo verhört wurde. Als er auf der Bühne stand und sah, dass zwei
SS-Männer mitschrieben, sagte er zu den beiden: „Kommen Sie mit? Oder soll ich
mitkommen?“
„Wort und
Wahrheit“ statt Angst und Dummheit!
Bereits 1946
gründete Mauer „Wort und Wahrheit, die Monatsschrift für Religion und Kultur“.
Sie war die beste intellektuell-kulturelle katholische Zeitschrift, die Österreich
je hatte. Im Auftrag von Kardinal Innitzer hat Mauer die „Katholische Aktion“
(KA) als Laienbewegung unter Mitarbeit von Ferdinand Klostermann systematisch
aufgebaut. Und 1947 kam es auch zur Gründung des „Katholischen Akademikerverbandes“
(KAV), mit Mauer als Geistlichem Assistenten. Das Katholische Bildungswerk, dessen
geistlicher Assistent und Spiritus Rektor Otto Mauer war, wurde 1955 gegründet.
„Wider die
Verelendung des Volkes!“
Im September
1952 fand der erste österreichische Katholikentag in Wien statt. Die zwei
Leitsätze waren vom Esprit Otto Mauers geprägt: „Freiheit und Würde des Menschen“,
und „eine freie Kirche in einem freien Staat“. Mauer trat auch für eine
Trennung von Kirche und ÖVP ein, was ihm viele Feinde brachte. Bruno Kreisky
hatte Mauer sehr geschätzt, weil er ähnlich wie Kardinal König die
Vereinnahmung durch die ÖVP energisch abgelehnt hat. An der
Abschlusskundgebung am Heldenplatz nahmen etwa 250 000 Menschen teil.
Mauer sprach
dort in seiner Abschlussrede politisch Klartext: „Schafft Wohnungen, darin
sich menschenwürdig wohnen lässt, darin Kinder zur Welt kommen und aufwachsen
können. Bietet Raum einem jungen Volk. Besser Wohnhäuser bauen als Parteiheime
und bürokratische Paläste. Verhindert die Verelendung des Volkes. Reduziert
die Luxuslimousinen der Beamten und schafft Existenzraum … rettet den
Mittelstand …treibt Familienpolitik statt Interessenspolitik.“ Weil er
Thema und Gestaltung dieses Ereignisses wesentlich mitbestimmt hat, erhielt er
1953 den Titel Monsignore verliehen. Und er war und blieb „der Monsignore!“,
der „Feuer heißen sollte, nicht Mauer“, wie Kardinal Innitzer damals zu ihm
sagte.
Wortgewaltiger
Domprediger und Kunstförderer
Im Jahr 1954
wurde Mauer zum Domprediger von St. Stephan ernannt. Und damals gründete er seine
international bedeutsame „Galerie St. Stephan“ in der Grünangergasse 1.,
später „Galerie nächst St. Stephan“. In diesem Zentrum der Avantgarde der
modernen Kunst fanden neben Ausstellungen auch Dichterlesungen, Musikabende
und Diskussionen zu aktuellen Themen statt. Mauer war ein Entdecker und
Förderer junger Künstler, wie Wolfgang Hollegha, Josef Mickl, Markus
Prachensky und Arnulf Rainer. Vor allem die abstrakte Kunst und der Expressionismus
faszinierten Mauer. Als er sich in den 50er-Jahren für die Verleihung der
österreichischen Staatsbürgerschaft an Bert Brecht eingesetzt hatte, gab es im
erzkatholischen Österreich massive Kritik.
Der Geist des
Konzils und Struktur gewordene Berührungsangst
Durch das Zweite
Vatikanische Konzil (1962 – 1965) kam es vorübergehend zu einem Aufbruch in der
Katholischen Kirche, die mehr als 100 Jahre lang im antimodernistischen
Winterschlaf erstarrt war. Mauer schrieb 1966: „Unbewältigte Vergangenheit ist
schlimm, unbewältigte Gegenwart schlimmer!“ Weithin ist diese Kirche Struktur
gewordene Berührungsangst vor dem wirklichen Leben wirklicher Menschen und vor
der befreienden Botschaft Jesu. Mauer hasste alles Geistlose und die in
unseren Landen so verbreitete Schlafmützigkeit. Seine ausgeprägte Sensibilität
äußerte sich in Geistesgegenwart, Neugier und Kreativität. Treffend ist sein
Verständnis von Bildung: „Bildung ist jener Vorgang, durch den ein Mensch
von Menschen veranlasst wird, Mensch zu werden“.
Prophetischer Mut
und Zorn
Anlässlich
seines 60. Geburtstags schrieb der damalige KATHPRESS-Chefredakteur Richard
Barta: „Die politische Macht hat ihn immer mit etwas Misstrauen betrachtet.“
Und 1970 sagte Mauer: „Die katholische Kirche ist die größte Organisation
von Atheisten in Österreich!“ Angesichts einer christlichen Partei, deren
Politik weithin unchristlich war und ist, sagte er 1970: „Es gibt keine
entartete Kunst, das wäre nämlich Nichtkunst. Aber es gibt eine entartete
Gesellschaft, in der menschlich zu leben kaum möglich ist. Sie kann nur
aufgrund prophetischen Zornes, aus ethischem Antrieb geändert werden“.
Und der große
Förderer von Künstlern und Kunst sagte: „Vielleicht sind die Propheten in
diese Künstler abgewandert, in die Goya, Daumier, Georges Grosz, weil die
Kirche keine Propheten mehr geduldet hat.“ Mauers große Kunstsammlung
befindet sich im Erzbischöflichen Dom- und Diözesanmuseum, wo immer wieder Ausstellungen
der Sammlung Mauer zu gezielten Themen stattfinden.
Am 3. Oktober
1973 starb Otto Mauer 67jährig völlig überraschend an einem Lungeninfarkt.
Begraben ist er im Familiengrab von Brunn am Gebirge. Auf dem Grabstein, gestaltet
nach Plänen von Fritz Wotruba, stehen drei essenzreiche Worte: „Priester /
Mahner / Tröster.“
Alfred Kirchmayr, DDr., Theologe
und Psychotherapeut, war enger Mitarbeiter des Konzilstheologen Ferdinand Klostermann
und des „Psychiaters der Nation“ Erwin Ringel. Mitarbeit an zahlreichen
wissenschaftlichen Publikationen. Unterrichtet an der
Sigmund-Freud-Privatuniversität in Wien. Seit Jahrzehnten auch „KC“-Autor.
Literatur über Otto Mauer:
Böhler, Bernhard
A. (Hrsg.): Happy Birthday Monsignore. Zum 100. Geburtstag von Monsignore Otto
Mauer. Förderer moderner Kunst in Österreich nach 1945. Wien 2007.
Metanoia. Zum
30. Todestag von Monsignore Otto Mauer. Werke aus seiner Sammlung. Herausgeber:
Erzbischöfliches Dom- und Diözesanmuseum, Wien 2003
BUCHTIPP:
Franz. J. HINKELAMMERT: Utopie - Mythos - Religion. Von der
Kritik der Moderne zum Humanismus der Praxis. Luzern: Exodus, 2023. 350 Seiten,
€ 31,90.
Ein grandioses Alterswerk des am 16. Juli
2023 im Alter von 91 Jahren verstorbenen Franz Hinkelammert, dessen Reichtum an
Inhalt und sprachlichen Formulierungen unmöglich in einer kurzen Rezension
wiederzugeben ist. Bei der Lektüre denkt man immer wieder: selten habe ich ein
Buch gelesen, das so klar und überzeugend Bonhoeffers „nicht-religiöse“
Interpretation biblischen Glaubens betreibt. Und dann fasst er im
Schlussabschnitt sein ganzes Werk tatsächlich mit Bonhoeffers Reflexionen zur
Transzendenz Gottes „mitten im Leben“ zusammen: „Christsein als Menschsein für
andere“, in Begriffen von Marx: der Humanismus der Praxis.
Der I. Teil des Buches ist eine Neuauflage
des früheren Buches „Gott wird Mensch und der Mensch macht die Moderne. Zur
Kritik der mythischen Vernunft in der abendländischen Geschichte. Ein Essay“.
Luzern: Edition Exodus, 2021. Dazu verweise ich auf meine Rezension in
„Kritisches Christentum“, (Nr. 452/453, November/Dezember 2021, S 27 ff.). Der
II. Teil bringt dann „Erweiterungen“ zu den Themen des I. Teils unter dem Titel
„Die wahre Welt als perfekte Welt der empirischen Wissenschaften und ihre
Kritik“.
Der III. Teil ist eine „Hommage an
Franz J. Hinkelammert. Der Versuch, das Werk eines großen Denkers zu würdigen“
von Kuno Füssel. Um dies gleich vorweg zu nehmen: Es empfiehlt sich für
LeserInnen, die mit Franz Hinkelammerts Denken noch nicht vertraut sind, diese
Gesamtinterpretation seines Werkes als erstes zu lesen. Denn dadurch wird
dieses letzte Werk in Bezug zum gesamten Lebenswerk verständlich. Füssel
beginnt mit dem biografischen Kontext Hinkelammerts zwischen Europa und
Lateinamerika, gefolgt von einer Interpretation des grundlegenden Werks: „Die
ideologischen Waffen des Todes. Zur Metaphysik des Kapitalismus“. Dann
bietet Füssel eine Darstellung und Interpretation der drei Kritiken: Kritik der
utopischen Vernunft, Kritik der mythischen Vernunft und „Kritik des
Kapitalismus als höchstes Stadium der Religionskritik“. Viertens bespricht er
die biblisch-theologisch fundierten Interventionen in den Diskurs zur Moderne
und zum Schluss den „Humanismus der Praxis oder Wege zu einer neuen
Lebenswirklichkeit“. Nun aber zum II. Teil des Buches aus der Feder Franz
Hinkelammerts.
1. geht es um die Kritik der Vernunft in
der abendländischen Geschichte. Er sieht zwei Grundprobleme, die er dann in den
weiteren Abschnitten entfaltet. Die Menschenrechte für alle sieht er zuerst
formuliert von Jesus und Paulus (Im Messias „gibt es nicht mehr Juden und Griechen,
Sklave und Freie, Mann und Frau“, Gal 3.28). Nach diesen Kriterien der
Nichtdiskriminierung soll eine andere Gesellschaft aufgebaut werden – soweit
wie möglich. Dieser Ansatz wird durch die konstantinische Wende 312 zum
imperialisierten Christentum ins Gegenteil verkehrt – in die Legitimation
von Macht, bricht aber immer wieder durch wie z. B. in den Bauernkriegen.
Säkularisiert zeigt er sich in den ursprünglichen englischen und französischen
Volksrevolutionen, wird dann aber in beiden Fällen durch die Umkehr in
bürgerliche Revolutionen entdemokratisiert. Heute ist die Herrschaft des
kapitalistischen Marktes über die Demokratie (Klassenkampf von oben) der alles
Leben gefährdende Höhepunkt dieser Verkehrung. Das zweite Grundproblem ist
die Utopie eines Lebens und dieser Erde ohne Tod, zum ersten Mal auftauchend
vor ca. 6000 Jahren im Gilgamesch-Epos. Die frühen Vorläufer davon sind die vor
100 000 Jahren beginnenden Erdbestattungen mit Grabbeigaben, die auf Vorstellungen
eines Lebens nach dem Tod hinweisen. Ohne dies zu reflektieren, abstrahieren
auch die empirischen Wissenschaften der Moderne von der Endlichkeit des Menschen
und verweisen so auf ein Jenseits der Endlichkeit, wenn sie z. B. den perfekten
Beobachter, den perfekten Markt mit allwissenden Teilnehmenden und perfektem
Wettbewerb oder den perfekten Plan für ihre Modelle voraussetzen. Wenn solche
Perfektionen dann nicht als transzendentale Konzepte, sondern als umzusetzende
Ziele von Machtsystemen durchgesetzt werden, kommt es zu Katastrophen wie im
Stalinismus oder dem gegenwärtigen Neoliberalismus, der mit der Absolutsetzung
des Marktes die Menschheit in den kollektiven Selbstmord treibt.
2. Diese Themen werden unter den
Stichworten Allwissenheit und Unsterblichkeit durchbuchstabiert mit dem
Ergebnis, dass um des konkreten Lebens willen in die angeblich sich selbst
regulierenden Märkte eingegriffen werden muss, wenn sie ein Instrument des
Lebens und nicht des Todes sein sollen.
Unter 3. wird dies dann methodisch
analysiert. Dabei geht es um die neue Metaphysik der menschlichen Praxis. „Die
Welt post mortem des Paulus von Tarsus ist jene Welt, die als transzendentaler
Begriff überall in den empirischen Wissenschaften der Moderne aufs Neue
konzipiert wird. Natürlich ist sie in diesen Wissenschaften als
transzendentaler Begriff präsent, bei Paulus hingegen wird sie als zukünftige
wirkliche Welt post mortem verstanden – in der Vorstellung von der Auferstehung
der Toten, die eine transzendente Imagination ist“ (187). Dies steht in der Tradition
des jüdischen Gottes Jahwe, der als Sklavenbefreier verstanden ist und deshalb
auf die Menschwerdung des Menschen zielt. In der Moderne wird aber Gott nicht
Mensch, sondern Geld. So wird aus dem Gott des Lebens der Gott des Todes. Ohne
Markt und Geld geht es allerdings in einer arbeitsteiligen Gesellschaft nicht.
Deshalb muss um des Lebens willen demokratisch in den Markt interveniert
werden, d. h. nach Jesus und Paulus, aus der Perspektive der Schwachen und
Armen (gegen Nietzsche, der dagegen den Willen zur Macht setzt).
4. wird die neue Welt des Paulus
entfaltet, ausgehend von der Formulierung der Menschenrechte (Gal 3,28). Die
großen Emanzipationsbewegungen der Sklaven, Frauen und Arbeiter in der Moderne
ruhen auf diesem Fundament. D. h. es musste zunächst auf der Ebene des Mythos
formuliert werden, was dann in der Gesellschaft erscheinen konnte. Allgemein
formuliert Paulus seinen Ansatz in der Kritik des Gesetzes: Gesetz dient nur
dem Leben, wenn es von der Liebe, vom Nächsten her reguliert wird (Rö 13,8-10).
So entsteht der Humanismus der Praxis – die Praxis, die sich an der neuen Welt
orientiert, und so der Menschwerdung Gottes durch Menschlichkeit entspricht.
Oft kann hier auf Papst Franziskus und sein Apostolisches Schreiben zur
Ökonomie, Evangelii Gaudium, verwiesen werden.
5. Den Abschluss bildet die „Kritik der
Religion im Namen der Mündigkeit des Menschen“. Nach Bonhoeffer besteht die
Selbstverwirklichung des Menschen im „Dasein für andere“. Genau dies
korrespondiert mit der Tradition Jahwes, der die Menschen bei ihrer
Selbstbefreiung aus der Sklaverei wie ein Freund begleitet, der Gott der
„mitten in unserem Leben“ jenseitig präsent ist, nicht der mächtige Deus ex
machina, sondern der mit-leidende Gott.
Dies ist der Bonhoeffer, der, als er – für
andere – an den Galgen ausgeliefert wurde, sagte: „Ihr seht das Ende, für
mich ist es der Anfang des ewigen Lebens.“
Ulrich Duchrow